Reliquie wird zum Politikum

6. Oktober 1844. Wilhelm Arnoldi hatte eine ereignisreiche Zeit erlebt. Er habe „in einer fortwährenden, freudigen Aufregung“ gelebt, schrieb der Trierer Bischof in einem Brief an einen Vertrauten. Sieben Wochen lang war das Bistum, das in Preußen geographisch und politisch an der Peripherie lag, Mittelpunkt des katholischen Lebens gewesen.

Zu Tausenden waren die Menschen durch den Dom gezogen, um die „Tunica Christi“, den Heiligen Rock, zu sehen. Zum Abschluss versammelten sich noch einmal die Gläubigen, zogen durch die Stadt am festlich beleuchteten Dom vorbei zum Bischofshof und empfingen dort von Arnoldi den Segen. Die Wallfahrt von 1844 zog eine Rekordzahl von Pilgern an. Ursprünglich sollte sie sechs Wochen dauern. Aber sie wurde wegen des großen Andrangs um eine Woche verlängert – bis zum 6. Oktober. 563 000 Pilger zählten die Organisatoren. Damit wurde die Besucherzahl der Wallfahrt von 1810 um ein Mehrfaches übertroffen. Im Durchschnitt gingen täglich über 11 000 Menschen zum heiligen Rock.

Eindrucksvolle Demonstration des rheinischen Katholizismus

Für Wilhelm Arnoldi war diese Resonanz eine persönliche Genugtuung. Gewollt oder ungewollt wurde die Wallfahrt zu einer eindrucksvollen Demonstration des rheinischen Katholizismus, auch gegen den preußischen Staat. Arnoldi hatte unter den Konflikten zwischen Kirche und weltlicher Herrschaft persönlich gelitten.

1798 im Eifeldorf Badem bei Bitburg geboren, war er der erste auf dem Trierer Bischofsstuhl, der aus engen, bürgerlichen Verhältnissen kam. Arnoldi erhielt 1821 in Metz die Priesterweihe und wirkte danach als Pfarrer in Laufeld bei Wittlich, dann in Wittlich selbst und als Lehrer am Trierer Priesterseminar. Gegen seine Wahl zum Bischof gab es von staatlicher Seite erhebliche Widerstände. Im Jahr 1836 war Arnoldis Amtsvorgänger Joseph von Hommer gestorben. Mehr als zwei Jahre danach hatte sich das Domkapitel für Arnoldi entschieden, obwohl dieser vom preußischen König nicht ausdrücklich als „genehme Person“ bezeichnet worden war. Das empfand man in Berlin als Provokation und verweigerte die staatliche Bestätigung. Da das Domkapitel seine Entscheidung nicht revidieren wollte und Arnoldi nicht freiwillig zurücktrat, blieb der Bischofsstuhl unbesetzt.

Erst mit der Thronbesteigung von Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1840 entspannte sich das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und preußischem Staat. Als das Domkapitel am 27. Juni 1842 erneut Arnoldi zum Bischof wählte, versagte der Monarch diesmal seine Zustimmung nicht. Mit der Säkularisation hatte die Kirche ihre weltlichen Machtmittel verloren. Das protestantische Preußen stand dem Katholizismus fremd bis ablehnend gegenüber. Um so wichtiger wurde es, die Gläubigen an die Kirche zu binden.

Anders als Hommer, der mit vielen seiner Amtsbrüder dem Wallfahrtsgedanken kritisch gegenüberstand, sah der „Bürgerbischof“ Arnoldi darin einen legitimen Ausdruck der Volksfrömmigkeit und einen Impuls zur Erneuerung des Katholizismus. 1837 war es in der Mischehenfrage mit der Verhaftung des Kölner Erzbischofs Clemens August von Droste-Vischering zu einem Eklat gekommen, der auch die katholische Bevölkerung mobilisierte. Der neue Trierer Bischof setzte also auf einen damals aktuellen Trend, als er am 16. April 1844 dem Domkapitel mitteilte, dass „seit einem Jahre Geistliche und Laien vielfach den Wunsch ausgesprochen“ hätten, den Heiligen Rock ausgestellt zu sehen und er diesem Wunsch entsprechen wolle. Am 22. Juni 1844 gab der Oberpräsident der Rheinprovinz seine Zustimmung, monierte allerdings in einem Schreiben, dass es bei einer solch außerordentlichen kirchlichen Feier nicht genüge, diese dem Staat bloß anzuzeigen. Der Bischof hatte den Präsidenten nur informiert, statt förmlich um seine Genehmigung zu bitten.

Für die Pilger war die Wallfahrt eine enorme Strapaze. Postkutschen konnten den Mobilitätsbedarf allein nicht decken, Eisenbahnen fehlten völlig, und die Mosel-Dampfschifffahrt von Koblenz nach Metz, die 1841 eingerichtet worden war, befand sich noch in den Anfängen. Für die meisten Pilger blieb nur der beschwerliche Fußweg durch Eifel und Hunsrück. Die Wallfahrt der 35-jährigen unverheirateten Maria Fröhlich aus Neuwied ist in einem Tagebuch dokumentiert. Am 22. September 1844 hatte sie mit dem Dampfschiff Koblenz erreicht. Tags darauf trat sie die Wanderung nach Trier an und erreichte die Stadt am 26. September, wo sie bei Privatleuten übernachtete. Auch während der Fußreise fand sie Unterkunft in Privatquartieren und musste sich mit dürftigen Mahlzeiten begnügen. Die Rückreise erfolgte per Schiff und zu Fuß vom 28. bis zum 30. September. Maria Fröhlich gab in dieser Zeit ungefähr einen Reichstaler aus. Zum Vergleich: Ein Lehrer verdiente damals rund 100 Reichstaler jährlich.

Hatte Arnoldi mit der Wallfahrt den Aberglauben gefördert?

Die Heilig-Rock-Wallfahrt 1844 war wirtschaftlich für die Stadt ohne größere Bedeutung, weil die Lebensweise der Pilger sehr einfach war und der übrige Geschäftsbetrieb unter dem Massenandrang eher gelitten haben soll. Auch innerhalb der Kirche blieb sie umstritten. In Schlesien hatte der suspendierte Priester Johannes Ronge einen offenen Brief an Arnoldi gerichtet und diesen darin heftig angegriffen. Der Trierer Bischof, schrieb Ronge, habe mit der Wallfahrt den Aberglauben gefördert, den konfessionellen Frieden in Deutschland gefährdet und das Land dem Papst preisgegeben.

Doch obwohl Ronges Schrift weite Verbreitung und viele Anhänger fand, konnte sie Arnoldis Position nicht mehr erschüttern. Als der Trierer Oberhirte 1845 eine Reise durch das Rheinland unternahm, wurde er in Köln, Bonn und Aachen auf Massenversammlungen ausgiebig gefeiert.

Die Heilig-Rock-Wallfahrt 1844 war ein Signal. Sie leitete eine neue kirchengeschichtliche Epoche ein. Der deutsche Katholizismus hatte ein Stück seiner Identität wiedergefunden. – Am vergangenen Freitag sind im Trierer Dom die diesjährigen Heilig-Rock-Tage eröffnet worden. Bis zum 16. April werden Andachten, geistliche Projekte, Ausstellungen, Domführungen und spezielle Stadtrundgänge angeboten. Das Motto der Veranstaltungsreihe „Kommt und sehet“ bezieht sich auf die christliche Berufung nach dem Johannesevangelium. Am heutigen Samstag wird um 10 Uhr mit einem ökumenischen Gottesdienst im Dom ein „Ökumenetag“ eröffnet.

Zum Abschluss am 16. April ist eine „Domnacht“ mit Lesungen, Meditationen und Musik von 20 Uhr bis 6 Uhr morgens vorgesehen. Weitere Informationen: www.bistum-trier.de.

Martin Möller

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