Die Jungs aus dem Ghetto

Brüssel · Molenbeek, immer wieder Molenbeek: Kein anderer Ort ist in den letzten Monaten öfter mit dem Begriff Terror in Verbindung gebracht worden. Dabei ist der Brüsseler Vorort weit mehr als ein Terroristen-Unterschlupf. Unter Fußballscouts gilt er als Talentschmiede.

Brüssel. Es sind nur ein paar Schritte vom Fischmarkt im historischen Zentrum Brüssels rüber nach Molenbeek. Der Kontrast könnte kaum größer sein. Hinter dem Charleroi-Kanal fängt eine andere Welt an: Auf der Hauptstraße, der Chaussee de Gend, ist samstags Markt. Fliegende Händler haben ihre Auslagen, überwiegend billige Textilien, ausgebreitet. Es ist eng. Die vielen Menschen schieben sich aneinander vorbei. Fast alle Frauen tragen ein Kopftuch, vor den Teestuben sitzen nur Männer. Die Stimmung ist gedrückt. Selten hört man ein Lachen. Die Menschen schauen Fremden nicht ins Gesicht. Besucher sind ihnen offensichtlich unangenehm. Sie wissen, mit welchen Augen die Welt auf Molenbeek blickt.
Die Anschläge von Paris und Brüssel wurden von jungen Männern geplant und ausgeführt, die in diesen Straßen aufwuchsen. Bevor sie zu Terroristen wurden, lungerten sie rund um die U-Bahn-Station Beekant herum, eine Gegend mit überwiegend marokkanischstämmiger Bevölkerung. Die schmalen Häuser sind meist zwei- oder dreigeschossig und aus Backsteinen. Wenn alles ein wenig gepflegt wäre, hätte es Charme. So ist es aber an Trostlosigkeit kaum zu überbieten. Nicht einmal 100 000 Einwohner hat der Stadtteil. Im eigentlichen Brennpunkt zwischen Kanal und der Eisenbahnlinie wohnt vielleicht die Hälfte davon. Ob bei den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo, das Konzerthaus Bataclan, die Metrostation Maalbeek oder den Flughafen Zavantem - bei allen diesen Terrorakten, die auf das Konto des IS gingen, führte immer eine Spur nach Molenbeek.
Im März erst wurde Salah Abdeslam, der überlebende Attentäter von Paris, hier verhaftet. Ganz Belgien steht im Ruf, Nest und Rückzugsort für Terroristen zu sein. Gemessen an der Bevölkerungszahl zogen auch aus keinem anderen Land der EU so viele IS-Legionäre in den Krieg nach Syrien wie aus Belgien.
Das ist aber nicht alles, wofür Molenbeek steht. Molenbeek ist eine Kaderschmiede für den Sport. Zuweilen prallen die beiden Welten sogar in einer einzigen Familie zusammen. Der 21-jährige Mourad Laachraoui aus Molenbeek hat gerade den Titel Europameister im Taekwondo im schweizerischen Montreux geholt. Das war zwei Monate, nachdem sein älterer Bruder Najim sich am Flughafen in die Luft gesprengt und mehrere Menschen mit in den Tod gerissen hat. Der schmächtige Mourad sagte gegenüber einer belgischen Zeitung: Es ist zwei Monate her, "dass mir der Himmel auf den Kopf gefallen ist."
Legendär sind die Fußballer, die hier groß geworden sind. Vincent Kompany, der derzeit verletzte Kapitän der belgischen Nationalmannschaft und Verteidiger bei Manchester City, ist im Viertel aufgewachsen. Kompany, dessen Vater aus dem Kongo kommt, hat sogar den Club FC Bleid Molenbeek gekauft und unter dem unverfänglicheren Namen BX Bleid Brussels ins Rennen geschickt. Romelu Lukaku, der Stürmer des FC Everton, hat ebenfalls seine Wurzeln in Molenbeek. Der belgische Fußball ist derzeit so erfolgreich wie noch nie. Zeitungen sprechen bei Lukaku, Kompany & Co. von der goldenen Generation. Auf kein anderes Land hat die talentgierige und finanzkräftige englische Premier League so sehr ein Auge geworfen wie auf dieses kleine zerstrittene Land mit seinen elf Millionen Einwohnern. Kein Wunder, dass die "Roten Teufel" - von 23 Spielern im Kader haben zwölf Wurzeln außerhalb Belgiens - als Favoriten bei der EM in Frankreich gelten.
In Molenbeek spielt die alte Geschichte von Jugendlichen, die dem sozialen Elend, der Gewalt in den Familien, der Arbeitslosigkeit entkommen wollen und für die der Fußball eine Chance dafür bietet. Noch so ein Talent war etwa Junior Malanda, der in Deutschland für Wolfsburg gespielt hat, und kürzlich bei einem Autounfall ums Leben kam. Jean Kindermans, Talentsucher beim großen belgischen Club RSC Anderlecht, sagte gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Inzwischen kommen die besten Spieler aus den schwierigsten Stadtteilen." Und Molenbeek, das an Anderlecht angrenzt, sei "für uns wie ein Meer voller Talent". Doch die Fische müssen auch geangelt werden.
Vieles wird im kleinen Belgien durch die große Sprachenvielfalt erschwert. Das Land ist tief gespalten. Es gibt eine französische und eine niederländische Sprachfamilie, ob Gewerkschaften, Banken oder Medien, überall leistet sich Belgien doppelte Strukturen. Die eine richtet sich an die französischsprachige Bevölkerung im Süden des Landes, die andere an die niederländisch sprachige Bevölkerung im Norden. Beinahe täglich feuern die Politiker die Spaltung der Gesellschaft mit Sticheleien an. Französisch oder Niederländisch? Für Dailly ist die Frage abwegig. "Ich bin Brüsseler, ich spreche beides."
Und bei den Roten Teufeln? Trainer Marc Wilmots, auch Kampfschwein genannt, ist perfekt zweisprachig. Viele Spieler sind es auch. Sie wechseln vor der Kamera mühelos von der einen Sprache in die andere. All das spricht dafür, dass in der Welt des Fußballs die Teilung des Landes in "frankophone" und "néer landais" nicht existiert. Im Kopf nicht und auf dem Platz nicht. Am Ende stiftet der Fußball den Belgiern die nationale Identität, die dem Land ansonsten abgeht.

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