Auf den Spuren von 2500 Jahren Geschichte, Schweiß und Tränen

Athen/Trier · Die Geschichte der Marathonläufe ist unweigerlich mit dem legendären Lauf von Marathon nach Athen verbunden. Vor 2500 Jahren starb nach den Überlieferungen aus alter Zeit der Bote Pheidippes mit dem Siegruf auf den Lippen, nachdem er vom Schlachtfeld in die Hauptstadt gelaufen hatte. Michael Merten aus Trier war beim Jubiläumslauf dabei.

 Athen-Marathon 2010

Athen-Marathon 2010

Foto: Michael Merten
 Athen-Marathon 2010

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Foto: Michael Merten
 Athen-Marathon 2010

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Foto: Michael Merten
 Athen Marathon

Athen Marathon

Foto: Michael Merten

Marathon, am 11. September 490 vor Chr. In der kleinen Bucht rund 40 Kilometer vor Athen steht das übermächtige , mindestens 15.000 Mann starke persische Besatzungsheer den knapp 10.000 Athenern gegenüber. Die Großmacht des antiken Orients, die Weltmächte wie Babylon in die Knie gezwungen hat, will auch die griechischen Stadtstaaten zu ihren Vasallen machen. Doch der Freiheitsdrang der Athener, die ihre Heimat verteidigen, und eine geschicktere Strategie ihres Anführers Miltiades schaffen das Unglaubliche: Die Athener besiegen die Perser, der Weg für die Entwicklung hin zur ersten Demokratie der Menschheitsgeschichte ist geebnet. Das ist die historisch verbürgte Geschichte von Marathon. Der Rest ist Legende: Der Bote Pheidippides soll vom Schlachtfeld in Marathon nach Athen gelaufen sein, um dort den Sieg zu verkünden, der zu seiner persönlichen Niederlage wurde: Ausgezehrt vom Gewaltmarsch starb er.

Marathon, 2500 Jahre später. Es ist der 31. Oktober 2010 nach Christus. Mit 12.500 anderen Läufern stehe ich in der Ebene von Marathon und warte auf den Startschuss. Wir kämpfen nicht um unsere Freiheit, sondern wir gedenken dieses legendären Mannes. „Be part of history“ verkünden die Plakate.

Schon fünf Tage vor dem Lauf am Sonntag reise ich in Athen an. Zwar gibt es in dem Hostel, in dem ich die ersten Nächte verbringe, keine Küche, um sich simpel, aber zweckdienlich Nudeln mit Tomatensoße zuzubereiten. Aber als Entschädigung habe ich einen interessanten Zimmernachbarn: Henk Vos, ein Mittfünfziger aus Südafrika, geboren in Amsterdam, ein Künstler, der gerade aus Venedig kommt. Er macht seit zwei Monaten eine „Magic Mystery Tour“, ist überall in Europa unterwegs und filmt alles, was ihm Interessantes über den Weg läuft. Sein Highlight ist seine Serie: Seit vier Sonntagen in Folge läuft er bereits einen Marathon, der krönende Abschluss ist am Sonntag der Marathon-Marathon.

„Diese Säulen, diese Orte strahlen doch so eine besondere Magie aus – ich verstehe nicht, wie man da mit Ohrstöpseln laufen kann“, sagt Henk, während wir unsere Startnummern abholen. Ein Vorteil von Athen ist definitiv die gute Fußläufigkeit: Man kann die wichtigsten Sehenswürdigkeiten alle zu Fuß sehr gut erreichen. Ein ganz besonderes Souvenir erwartet uns auf der Marathonmesse: Wir bekommen eine Erinnerungsmedaille „2500 Years – The Legend of Marathon – 490 BC – 2500 AC“.

Zum großen Jubiläum laden die Organisatoren des griechischen Leichtathletikverbandes SEGAS zu einer großen Show am Freitag vor dem Marathon ein: „The History of the Marathon Race“. Auf einer großen Leinwand und einer Bühne werden Sequenzen der Schlacht gezeigt. Dann werden Fotos und Filme eingeblendet von der Geschichte des Marathons seit der Neugründung der Olympischen Spiele 1896 im Panathinaikos Stadion in Athen. Einige der Legenden, die in den Filmen gezeigt werden, finden sich dann tatsächlich auf der Bühne ein: Etwa Katherine Switzer, die erste Siegerin beim New York Marathon 1974, eine Frau, die sich erst wenige Jahre zuvor gegen den Willen der Organisatoren einen Startplatz bei einem Marathon erschlichen hatte – bis in die 70er Jahre hinein war Frauen die Teilnahme am Lauf der Läufe verboten. Switzer wird ebenso wie die jüngste Marathon-Olympiasiegerin von Peking 2008 Constantina Dita und sieben weitere Topathlethen mit einem Preis geehrt.

Wer sich für die Geschichte des Marathonlaufes interessiert, wird in den nächsten Wochen in Athen fündig werden: Mehrere zum Teil sehr interessante Ausstellungen widmen sich des Themas.

Dann endlich ist der Sonntag gekommen. Um fünf Uhr Ortszeit klingeln meine Wecker, einer davon meine Laufuhr, deren Band nach drei Jahren exzellenten Dienstes beim Frühstück reißt. Es sei ein gutes Omen, sagt mein Tischnachbar. Na ja, ich lasse das mal so dahingestellt.

Um 6.30 Uhr fahren wir Teilnehmer einer der deutschen Reisegruppen – es sind gleich mehrere deutsche Sportreiseanbieter vor Ort – nach Marathon, denn noch bevor die Straßen gesperrt werden, müssen wir die einstündige Reise zum Start absolviert haben. Dort angekommen, ist es schon deutlich über zehn Grad Celsius, so dass ich mich zum Tragen eines ärmellosen Shirts entscheide. Es sollte sich als eine weise Entscheidung herausstellen.

Der Startschuss fällt um Punkt 9 Uhr, vier Minuten später laufe ich über die Registrierungsmatten, das Abenteuer Athen beginnt. Die Strecke führt vom Stadion von Marathon durch einige Dörfer und Vororte der 4,5-Millionen-Metropole zum Panathenaikos Stadion, wo schon in der Antike Sportwettkämpfe stattgefunden haben. Am Berg Penteli, woher der teure weiße Marmor, aus dem das Stadion gebaut ist, seit der Antike abgebaut wird, führt die Strecke vorbei. Vom Ägaischen Meer in Schlagweite ist jedoch nichts zu sehen. Auf der in den ersten zehn Kilometern flachen Strecke ist der erste Höhepunkt bei Kilometer 5 erreicht: Hier umrundet der Tross den Grabhügel von Marathon, wo die 192 gefallenen griechischen Kämpfer ruhen.

Einige Läufer haben sich als Hopliten (griechische Fußkämpfer) verkleidet; sie kommen äußerst spät ins Ziel, sterben jedoch wenigstens nicht wie ihr antikes Vorbild. Auf dem Rückweg vom Grabhügel treffe ich Henk auf der Gegengeraden. Während ich mich wie tausende andere Läufer abrackere, um eine gute Zeit zu erreichen, geht es ihm nicht primär um die Zeit. Er genießt den Weg von Marathon nach Athen: „Ich muss alles um mich herum vergessen, damit jeder Schritt zu einem magischen Moment wird“, erklärt der Mann, der auf den Fußstapfen des ersten Läufers fast jeden Meter mit seiner Kamera aufzeichnet. „Ich will keinen Atemzug verpassen, denn die Luft, die wir atmen, ist historisch“, sagt Henk voller Ehrfurcht.

Ehrfurcheinflößend sind auch die Worte des Organisationsleiters unserer Reisegruppe: “Insider halten diesen Marathon für einen der anspruchsvollsten, ich persönlich halte nur noch Boston für härter”. Aufmunternde Worte vor dem Start! Er rät: „Ziehen Sie von Ihren Erwartungen 10 bis 15 Minuten ab, dann sind Sie auf der sicheren Seite“. Die größte Tücke ist der Streckenverlauf: Ab Kilometer 10 steigt die Strecke durchgängig bis KM 17.5, nach einer Verschnaufpause geht es bei KM 18.5 wieder bergauf bis KM 32,5. Nur die letzten 10 Kilometer geht es fast durchgehend wieder bergab. Erschwerend hinzu kommen sehr hohe Temperaturen von bis zu 25 Grad, was zumindest wir Deutsche nicht mehr gewohnt sind, und eine äußerst Öde Streckenführung. Denn anders als bei den meisten Stadtläufen geht die Strecke nicht vorbei an Sehenswürdigkeiten, sondern führt auf einer Hauptstraße entlang.

Die ersten 20 KM haben wenigstens landschaftlich einige reizvolle Momente zu bieten, doch auf der zweiten Hälfte durchläuft man Großstädte. Es geht vorbei an unzähligen Aldis (!), Lidls (!), Tankstellen (immerhin ein Grund zur Freude für mich Lux-Tanker: In Athen sind die Preise deutlich höher), Werkstätten und ähnlichen Sehenswürdigkeiten, die so attraktiv sind wie die Bauten der Loebstraße. Dazu gibt es noch das Verteidigungsministerium und das Konzerthaus zu sehen.

Doch für die Streckenführung, die sich ja schließlich am antiken Vorbild orientiert, können die Verantwortlichen nichts. Als Angehöriger eines Volkes, das sich gerne als Organisationsweltmeister sieht, muss ich anerkennen, dass die Lauforganisation der Griechen besser ist als alles, was ich bisher erlebt habe. Auf jedem Kilometer steht mindestens ein Sanitäterteam, an den zahlreichen Getränkeständen gibt es nicht wie üblich Becher, bei deren Verzehr gerne mal ein hoher Anteil verschütt geht, sondern 0,5-Liter-Plastikflachen, die man bei Bedarf etappenweise trinken kann. Zudem ist bei rund 12.500 Teilnehmern genug Platz für alle da, es bilden sich an keiner Getränkestation Staus.

Ich persönlich fühle mich trotz der fast 30 Grad in der Sonne lange Zeit sehr gut, doch bei Kilometer 32 verzweifle ich fast: Der letzte, aber dafür auch härteste Anstieg der Strecke zwingt mich fast in die Knie. Ich verliere einige Minuten hier, kann mich aber noch einmal berappeln und rausche schließlich mit hohem Tempo ins Ziel. Ein erhebendes Gefühl ist der Einlauf ins Stadion, ein Mitläufer sagt mir später, ihm seien fast die Tränen gekommen. Griechische Rhythmen erklingen aus dem Lautsprecher, die Ränge sind gut gefüllt, ich bin mit der Welt und mir selbst im Reinen. Ich erreiche eine Nettozeit von etwa 4 Stunden und 6 Minuten (die genaue Zeit weiß ich noch nicht), womit ich angesichts der schweren Strecke sehr zufrieden bin. Meine Bilanz: Athen hat die schwierige Aufgabe, ein so bedeutendes Jubiläum angemessen zu würdigen, mit Anerkennung gemeistert.

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