Ein Läufer ohne Land

Flagstaff · Guor Marial läuft am Sonntag den Marathon unter der olympischen Flagge. Der gebürtige Südsudanese floh als Kind aus seinem Land, nachdem er als Sklave in einem Arbeitslager arbeiten musste. Mittlerweile lebt er in den USA.

Flagstaff. Als Guor Marial acht Jahre alt war, lief er im Schutz der Nacht. Für ihn war es ein Ausbruch aus seinem Leben als Sklave in einem Arbeitslager im Sudan. Jahre später stellte er als Flüchtling in den USA fest, dass er auch gut darin war, lange Strecken zu laufen. Und das auch noch schnell. Bei Olympia tritt er am Sonntag im Marathon an - ohne Heimatland, aber mit dem Wunsch, dass sein Lauf für die Menschen im Südsudan zum Symbol der Hoffnung werden kann.
"Ich laufe für Südsudanesen"


Marial qualifizierte sich mit einer Zeit von 2:14:32 Stunden im vergangenen Jahr für die Spiele in London. Es war sein allererster Marathon. Für die USA konnte er nicht antreten, weil er dort zwar die Aufenthaltsberechtigung hat, aber noch kein Staatsbürger ist. Ein Angebot des Sudan schlug er aus, weil er nicht ein Land vertreten wollte, in dem so viele Menschen Leid erlitten und aus dem er als kleiner Junge geflohen war. Sein Heimatland Südsudan - mittlerweile der jüngste Staat der Welt - hat noch kein eigenes Olympia-Team. So läuft Marial jetzt unter der olympischen Flagge.

Er trete für die Unterstützung der Vereinigten Staaten an und für die Menschen dort, die ihn zu diesem Sport gebracht haben, sagte der 28-Jährige vor seiner Abreise nach London. "Ich laufe auch für die Flüchtlinge und vor allem für die Südsudanesen." Dass er nicht zu den Sieganwärtern zählt, scheint ihm nichts auszumachen. Aber er sei entschlossen, sein Bestes zu geben, sagt er.
Das Internationale Olympische Komitee genehmigte erst im Juni, dass Marial als unabhängiger Teilnehmer zu den Spielen reisen durfte. Seinen Job in einem Heim für betreutes Wohnen gab er daraufhin bis nach Olympia auf und steigerte sein Trainingspensum. Jeden Tag verbrachte er Stunden im Fitnessraum und auf den Wegen und Pfaden rund um Flagstaff im US-Staat Arizona, wo er seit rund einem Jahr lebt.
Verschleppt ins Arbeitslager


Sein Weg dorthin war beschwerlich. Als Kind wurde er von bewaffneten Männern entführt und in ein Arbeitslager gesteckt. Mehr als 20 seiner Verwandten kamen durch Gewalt oder Krankheiten während der Unruhen im Sudan ums Leben. "Ich war in Gefahr. Ich wurde zusammengeschlagen, sie haben mir den rechten Kiefer gebrochen und meinem Onkel und meiner Tante das Schlüsselbein", erzählt Marial. "Daraufhin wurden wir in ein Krankenhaus gebracht." Nach einem Notfall, über den der 28-Jährige nicht sprechen will, habe er schließlich die Klinik verlassen, sei nach Ägypten und schließlich in die USA gekommen.
Mit 16 kam er ins Leichtathletik-Team einer High School in New Hampshire, wo sein Trainer das Talent des jungen Flüchtlings erkannte und ihn förderte. Dass ihn dieses Talent irgendwann bis zu den Olympischen Spielen führen würde, hätte sich das Flüchtlingskind aus einem Arbeitslager aber nie gedacht. Sein Start dort solle den Südsudanesen eine Stimme geben, sagt Marial. Und das Land in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rücken.

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