Was Wissenschaftler übers Dehnen wissen

Um Muskelverkürzungen zu beheben und die körperliche Leistungsfähigkeit zu steigern, sollten sich nicht nur Sportler regelmäßig dehnen. Ein kurzes Dehnprogramm reicht aus, um die Geschmeidigkeit zu verbessern.

 Die Leichtathletin Janine Vieweg zeigt eine klassische Übung zur Dehnung der Brustmuskulatur. Fotos: Uwe Bellhäuser

Die Leichtathletin Janine Vieweg zeigt eine klassische Übung zur Dehnung der Brustmuskulatur. Fotos: Uwe Bellhäuser

 Beim Dehnen sollte der Muskel nur so weit gedehnt werden, bis ein leichtes Spannungsgefühl auftritt. Es darf keinesfalls schmerzen.

Beim Dehnen sollte der Muskel nur so weit gedehnt werden, bis ein leichtes Spannungsgefühl auftritt. Es darf keinesfalls schmerzen.

Welche Effekte verschiedene Dehntechniken beim Gesundheits-, Freizeit- und Leistungssport haben, erforschen Wissenschaftler bereits seit einigen Jahrzehnten. Zu einem einheitlichen Ergebnis sind die Experten bis heute nicht gekommen. "Was im Muskel beim Dehnen passiert, ist im Detail noch nicht genau bekannt", erklärt Professor Dr. Georg Wydra vom Sportwissenschaftlichen Institut der Universität des Saarlandes. Offenbar sind Muskeln nicht in dem Sinne dehnbar, dass sie länger werden. Vor allem in Sportlerkreisen wird deshalb darüber diskutiert, ob Dehnen überhaupt sinnvoll ist.

"Durch regelmäßiges Dehnen wird der Muskel nicht länger, aber elastischer, was sofort spürbar und auch langfristig eine höhere Beweglichkeit und verbesserte Geschmeidigkeit ermöglicht", sagt Georg Wydra. "Der zunehmende Bewegungsmangel in unserer Gesellschaft führt nicht nur zu Kraftverlust, schlechterer Ausdauer und mangelhafter Koordination, sondern auch zu verringerter Beweglichkeit. Deshalb sollte ein ganzheitliches Training auch Dehnen beinhalten, damit die Beweglichkeit erhalten bleibt oder verbessert wird."

Mit seinen Mitarbeitern hat Wydra in den vergangenen Jahren mehrere Studien durchgeführt, um die wirksamste Dehntechnik zu ermitteln. Beim statischen Dehnen wird die Dehnposition gehalten, beim dynamischen Dehnen wird der Muskel durch langsam federnde Bewegungen mehrmals nacheinander in die Länge gezogen und wieder entspannt. Macht man schnellere wippende Bewegungen, spricht man von ballistischem Dehnen. Dieses sollte Leistungssportlern vorbehalten sein, die maximal beweglich sein müssen.

Die Saarbrücker Forscher konnten in ihren Studien nachweisen, dass beim dynamischen Dehnen, das lange Zeit wegen der federnden, wippenden Bewegungen als Zerr-Gymnastik verpönt war, keineswegs zu hohe Zugkräfte im Muskel auftreten, die das Verletzungsrisiko steigern. "Ein dynamisches Dehnen mit wenig ausgreifenden, langsamen und rhythmischen Bewegungen führt zu optimalen Ergebnissen", erläutert Georg Wydra. "Diese Art des Dehnens ist für Fortgeschrittene mit gutem Körper- und Muskelgefühl zu empfehlen, die rechtzeitig spüren, wenn sie zu stark und mit zu weiten Bewegungen dehnen." Statisches Dehnen hingegen ist Anfängern und Wiedereinsteigern zu empfehlen, da es gut spürbar macht, welcher Muskel gedehnt wird.

Damit ein Muskel bei zu heftiger und schneller Dehnung nicht reißt, aktiviert er seinen Bremsfallschirm. Er zieht sich reflexartig zusammen. Diese Kontraktion wirkt der Überdehnung entgegen. Da beim Krafttraining die Kontraktion des Muskels zu einem Dickenwachstum, der sogenannten Hypertrophie, führt, stellt sich die Frage, ob ein besonders intensives Dehnen eine so starke Kontraktion provozieren kann, dass sogar Muskulatur aufgebaut wird. Hinweise auf ein durch Dehnen ausgelöstes Muskeldickenwachstum beschreibt der kanadische Sportmediziner Professor Dr. Ian Shrier in einer 2004 veröffentlichten Studie. Doch eindeutig belegt ist der Zusammenhang nicht.

Das statische Dehnen wurde unter dem Namen Stretching bis vor Kurzem vor allem in Läufer-Kreisen als Allheilmittel gefeiert. Viele ambitionierte Jogger dehnten sich vor und nach dem Sport oft sehr ausführlich, um dadurch einen Muskelkater zu verhindern, das Risiko für Verletzungen zu vermindern, besser zu regenerieren und die Leistungsfähigkeit zu erhöhen. "Nichts davon hat sich bestätigt", betont Georg Wydra. "Eindeutig ist nur nachgewiesen, dass statisches Dehnen die Beweglichkeit verbessert."

Der Sportwissenschaftler Mohammed Rajaai Mahli, ein Mitarbeiter Wydras, hat für seine Doktorarbeit zahlreiche Studien zum statischen Dehnen gesichtet. "Forschergruppen aus mehreren Ländern haben herausgefunden, dass Stretching sich negativ auf Schnelligkeit, Schnellkraft und Maximalkraft auswirken kann, wenn es unmittelbar vor dem Wettkampf betrieben wird", erklärt Mahli. Schnelligkeit und Schnellkraft sind besonders bei Sprint- und Sprung-Disziplinen gefragt, große Maximalkraft ist vor allem beim Gewichtheben, aber auch bei Ringen und Judo erforderlich. Durch statisches Dehnen werden die feinsten Fasern des Muskels, die sogenannten Filamente, und das Bindegewebe des Muskels auseinandergezogen. Dadurch verringern sich die Grundspannung und der Widerstand, den der Muskel aufbringt, und seine Fähigkeit, Bewegungsenergie (kinetische Energie) zu speichern, die er schnell wieder abgibt. Dank dieser Energie fällt es beispielsweise leichter, ohne Pause auf der Stelle zu hüpfen als mit Pause nach jedem Sprung. Es leuchtet ebenso ein, dass die verringerte Muskelspannung beim Sprint oder Hochsprung, wo explosive Bewegungen gefragt sind, die Leistung mindern könnte.

Beim Durchforsten der wissenschaftlichen Literatur zum statischen Dehnen ist Mahli auf 45 Studien gestoßen, die eine Verschlechterung der Schnellkraft und Schnelligkeit beschreiben, wenn sich die Sportler unmittelbar nach dem Dehnen sportlich betätigt haben. Allerdings haben weitere 37 Studien keine solchen negativen Effekte festgestellt. "Legt man nach dem statischen Dehnen eine Pause von einer halben Stunde ein, bilden sich die unerwünschten Effekte zurück", erklärt Georg Wydra. "Danach sind bei Wettbewerben, die Schnellkraft erfordern, keine Einschränkungen mehr zu befürchten." Dynamisches Dehnen hat nicht die negativen Effekte wie das statische Dehnen, selbst wenn man es noch kurz vor dem Wettkampf anwendet.

In einer Studie mit 27 Herren- und 36 Jugendspielern in Handballvereinen haben Thomas Strauß und Georg Wydra vom Sportwissenschaftlichen Institut der Saar-Uni nachgewiesen, dass ein statisches Dehnen der Unterarm-, Schulter-, Ellbogen- und Brustmuskulatur keinen negativen Einfluss auf die Geschwindigkeit eines unmittelbar danach ausgeführten Schlagwurfs hat. Daher könne ein statisches Dehnprogramm der oberen Extremitäten vor Wettkampf und Training bedenkenlos absolviert werden, betonen die Autoren.

Regelmäßiges Dehnen, egal ob die statische oder dynamische Methode eingesetzt wird, steigert die Beweglichkeit in den Gelenken. Handball- und Tennisspieler können zum Beispiel den nach oben gestreckten Arm weiter nach hinten führen. Die größere Schwingungsweite in den Gelenken kommt Sportlern zugute, die eine überdurchschnittliche Beweglichkeit brauchen, um ihre volle Leistungsfähigkeit zu erreichen: Turnern, Rhythmischen Sportgymnastinnen, Synchronschwimmerinnen, Balletttänzern, Turmspringern, Leichtathleten. "Im Leistungssport benötigen zum Beispiel Turner eine besondere Dehnfähigkeit der Wirbelsäule sowie Hüft- und Schultergelenke, und Hürdenläufer müssen im Hüftgelenk besonders beweglich sein", erläutert Wydra.

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