Ein Experte erklärt‘s Mythos Dehnen: Was Sinn macht – und was nicht

Schweich/Wuppertal · Freizeitsportler können beim Dehnen so vorgehen, wie es ihnen individuell guttut, sagt der renommierte Sportwissenschaftler Jürgen Freiwald. Wenn es jedoch um Höchstleistungen geht, müssen Sportler und Trainer andere Faktoren mit beachten.

 Beim Thema Dehnen gibt es nach Aussage des renommierten Sportwissenschaftlers Professor Jürgen Freiwald grundsätzlich  kein ,Richtig‘ oder ,Falsch‘. Dennoch ist auf mehrere Dinge zu achten.

Beim Thema Dehnen gibt es nach Aussage des renommierten Sportwissenschaftlers Professor Jürgen Freiwald grundsätzlich  kein ,Richtig‘ oder ,Falsch‘. Dennoch ist auf mehrere Dinge zu achten.

Foto: picture alliance/dpa/Boris Roessler

Eine Gruppe Freizeitläufer dreht auf der Rundbahn des Schweicher Stadions ein paar Einlaufrunden und macht Koordinationsübungen. Und dann: „Wer will heute Intervalle laufen?“, fragt Trainer Martin Kemen. (Statische) Dehnübungen? Fehlanzeige! Aber ist das nicht verkehrt? Gehören zu einem ordentlichen Aufwärmprogramm nicht auch Stretchingübungen?

„Da gibt es kein ,Richtig‘ oder ,Falsch‘. Man muss nicht dehnen. Man kann“, sagt Professor Jürgen Freiwald vom Institut für Sportwissenschaft der Bergischen Universität Wuppertal: „In der Wissenschaft ist man sich einig, dass man nicht dehnen muss. Wenn eine Freizeitgruppe abends Intervalle läuft, dann ist es völlig egal, ob sie dehnen oder nicht.“

Freiwald betont die Unterscheidung zwischen statischem und dynamischem Dehnen. „Dynamisches Dehnen ist besonders im Sport geeignet. Ganz kurzes Dehnen, wie beim Handball oder Fußball, wenn gewippt wird. Super, wenn man anschließend explosivkräftig arbeitet“, sagt der Sportwissenschaftler. Außerdem komme es auf die Sportart an. Beim Turnen oder der Rhythmischen Sportgymnastik spielten die Beweglichkeit und auch das Dehnen eine wichtige Rolle.

Andererseits wirkt langes, statisches Dehnen vor einer Belastung maximalen Kraft- und Schnelligkeitsleistungen entgegen. „Ein Gewichtheber würde niemals vorher seine Muskulatur statisch und lange dehnen, weil dadurch Reflexe gehemmt werden“, sagt Freiwald. Einen kurzfristigen Leistungsverlust zwischen drei und sieben Prozent könne man messen.

Das ist im Hochleistungssport relevant. „Aber wenn ich durch den Wald jogge, ist das völlig uninteressant, zumal dort weder maximale Kraft- noch Sprungleistungen gefordert werden“, betont Freiwald.

Gerade bei Hobby-, Freizeit- und Gesundheitssportlern könne es individuell aber auch anders aussehen. Freiwald empfiehlt jedem Trainer, in seine Gruppe hineinzuhören: „Wenn jemand eine Verletzung hatte, einen Muskelfaserriss zum Beispiel, dann entstehen dabei Narben in der Muskulatur. Diesen Sportlern tut das Dehnen unglaublich gut.“

Das führt zur Bedeutung des Dehnens nach Verletzungen: „Statisches Dehnen ist in der Reha super“, sagt Freiwald. Nach einer Muskelverletzung könne man so kontrolliert bis zu einem leichten Spannungsgefühl dehnen. „Aber nicht darüber hinaus. Das funktioniert beim Wippen mit dynamischen Dehnübungen nicht. Das kann man nur mit kontrollierten Bewegungen“, sagt Freiwald und erklärt, was die Dehnübung nach Muskelverletzungen bewirkt: „In der Therapie will man dem Muskel durch den Dehnreiz zeigen, wohin sich die Muskel- und Bindegewebestruktur entwickeln muss. Das nennt man funktionelle Rehabilitation. Funktionell heißt, dass man die Narbe nicht wuchern lässt, sondern zum Beispiel durch ein dosiertes Dehnen eine Zugrichtung vorgebe, dass sich der Muskel entsprechend entwickelt.“

Ein Allheilmittel sei Dehnen sowieso nicht. Freiwald nennt zwei Beispiele, bei denen Obacht geboten ist: „Einmal, wenn man eine Verletzung hatte. Nehmen wir das operierte Kreuzband. Man hat meist so zehn bis fünfzehn Grad Beugedefizit. Dann sollte man nicht versuchen, wieder die alte Beweglichkeit herzustellen. Weil dann das operierte Kreuzband unter Spannung gerät und auslockert. Man darf dann nur bis zu einem gewissen Maße dehnen.“

Zudem verweist Freiwald auf Menschen, die sich mit künstlichen Gelenken (Endoprothesen) bewegen und Sport treiben: „Da muss man wissen: So eine Knieprothese toleriert maximal 120 oder 130 Grad Beugung, ebenso eine Hüftprothese, wobei diese Werte vom Prothesenmodell und dem individuellen Einbau abhängen. Die Gefahr ist, dass durch zu starkes Dehnen und ein Überschreiten der durch die Prothese vorgegebenen Beweglichkeit eine Schädigung verursacht wird. Beweglichkeit erhalten ja – aber bitte nicht über die Maßen hinweg erweitern. Dann hebelt man die Prothese aus. Daher sollte man die Beweglichkeitswerte der Prothese kennen. Das ist ganz wichtig, weil das gerade im Fitnessbereich öfters missachtet wird.“

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