Klassifizierungs-Zoff überschattet Rehm-Weltrekord

London (dpa) · Die Sache ist sogar dem Sieger Markus Rehm unangenehm. Trotz seiner famosen 7,35-Meter-Weltrekordweite und Gold im Weitsprung übt der Leverkusener Prothesen-Athlet Kritik an den Regularien der Paralympics - und ist nicht der einzige.

„Das ist nicht okay, das muss in Rio besser werden“, meinte Rehm. Deutlichere Worte findet der deutsche Chef de Mission. „Das ist Mist“, sagte Karl Quade der Nachrichtenagentur dpa am Sonntag. Der hervorragende sportliche Auftakt der Paralympics wird von einer Fairness-Debatte begleitet, an der sich neben den Leichtathleten auch Radsportler wie Michael Teubert und Schwimmerin Kirsten Bruhn beteiligen.

Worum geht es? Wegen mangelnder Athletendichte werden bei den Spielen verschiedene Behindertenklassen zusammengefasst. Das hat zur Folge, dass Rehm im Weitsprung durch ein seltsames Punktesystem quasi unschlagbar war und Marianne Buggenhagen die Kugel 82 Zentimeter weiter stieß als Yang Liwan, hinter der Chinesin aber nur Silber gewann. Klassifizierung ist für viele Gehandicapte ein Unwort.

„Ich hätte ungelogen den Nicht-Behinderten-Weltrekord springen können und hätte nicht gewonnen“, sagte Silbermedaillengewinner Wojtek Czyz. Quade fand deutliche Worte: „Das ist pervers, dass die Ober- und Unterschenkelamputierten zusammen springen.“ 2004 und 2008 hatte Czyz noch jeweils Gold geholt - und auch 2012 fühlt er sich als Sieger.

„Die können ja zusammen springen, müssen aber einzeln gewertet werden. Die Sportler sind einfach viel professioneller geworden, das geht nicht mehr“, forderte Quade, Vizepräsident Leistungssport beim Deutschen Behindertensportverband (DBS). Die deutsche Teamführung habe während der Spiele bis zum 9. September in der britischen Hauptstadt noch ein Treffen mit anderen führenden Nationen, um die Probleme zu diskutieren.

Bei der Thematik geht es nicht nur um Anzahl und Zusammenlegung der Klassen, sondern auch um die Einteilung der Sportler in ebenjene Gruppen. Wenn Michael Teubert darüber spricht, gerät der Bayer in Rage. Der mehrmalige Weltmeister hat „die Schnauze voll“, vor allem vom Rad-Weltverband UCI, der ihn seiner Meinung nach in eine Klasse verbannt hatte, in der er kaum Chancen hat. „Ich habe es nicht nötig, mich von Funktionären schikanieren zu lassen“, schimpfte der Routinier, der deswegen sogar seine Bahn-Karriere beenden will.

Anfechten oder sich mit seiner Klassifizierung abfinden: Vor der Entscheidung stehen viele Sportler bei den Paralympics in London. Die querschnittsgelähmte Schwimmerin Kirsten Bruhn muss gegen Rivalinnen antreten, die ihre Beine zum Teil einsetzen können. „Es ist müßig, über die Klassifizierung zu diskutieren“, meinte die mehrmalige Weltmeisterin und Paralympics-Siegerin der Jahre 2004 und 2008. „Ich bin nunmal in eine Klasse eingeteilt worden - Ende.“

Von all dem Regel-Wirrwarr will sich Rehm den Spaß nicht verderben lassen, nach Gold kann er befreit die Sprints angehen. Im Weitsprung ist er konkurrenzlos, was Teamkollege Czyz zur Prognose verleitete: „Ich wette, dass er in naher Zukunft ohne Probleme bei den deutschen Meisterschaften der Nicht-Behinderten mitspringen kann.“ Mit 7,35 Meter hätte dies im Juni zu Rang acht gereicht.

„Es wäre mein großer Traum, bei den Nicht-Behinderten zu starten, aber ich würde nie auf Konfrontation gehen und das einfordern“, sagte Rehm und ergänzte: „Es wäre schon toll, wenn ich bei den Meisterschaften einmal außer Konkurrenz starten dürfte. Das wäre auch ein Zeichen für den Nachwuchs.“ Und auch eine Möglichkeit, dem Klassifizierungsärger im Behindertensport aus dem Weg zu gehen.

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