Paralympics sind auch ein Technik-Wettstreit

London (dpa) · Nicht nur wegen des Namens Zanardi weht ein Hauch von Formel 1 über die paralympische Rennstrecke in Brands Hatch. Das Handbike, in dem der Italiener zur Goldmedaille im Zeitfahren gerast ist, wirkt eher wie Motorsport denn Fahrradfahren.

Die Sitzschale, in der der beinamputierte Ex-Pilot steckt, könnte auch die Frontpartie eines Rennboliden sein. Alessandro Zanardis Gefährt spiegelt ein Phänomen der Paralympics wider: Die Behindertenspiele in London sind neben dem Kräftemessen von Athleten auch ein Wettkampf um die beste Technik - Tüfteln scheint für den Erfolg ebenso wichtig wie Training.

„Viele haben mich belächelt, weil ich so viel an meiner Prothese herumschraube“, erzählte Sprinter Heinrich Popow nach seinem dritten Platz über 200 Meter. Der am linken Oberschenkel amputierte Athlet hatte dort auf der ungeliebten Innenbahn antreten müssen, und schon am Vorabend seines Rennens heftig gestöhnt. Dann aber legte er am Karbonbein noch einmal Hand an - mit Erfolg. „Hätte ich es nicht kürzer gemacht, wäre es nicht Bronze geworden“, ist sich der Leverkusener sicher.

Die Länge von Prothesen wurde vor allem durch den bekanntesten Behindertensportler dieser Spiele, Oscar Pistorius, zum Streitthema. Der Südafrikaner beklagte sich über die Länge der Lauffedern von Alan Oliveira, die diesem den 200-Meter-Sieg verschafft hätten. Das Internationale Paralympische Komitee sah keinen Regelverstoß, Pistorius musste sich entschuldigen, die Fairness-Debatte aber blieb.

Über solch einen Zentimeterstreit kann manch ein Mechaniker bei Ottobock nur schmunzeln. Der niedersächsische Prothesenbauer betreibt im paralympischen Dorf eine Werkstatt mit 78 Orthopädie-Technikern, Athleten aus aller Welt können sich dort kostenlos ihre Prothesen oder Rollstühle reparieren lassen. Als jüngst ein Sportler aus Nepal in die Werkstatt rollte, schüttelten die Techniker nur den Kopf. Die vorderen Räder des Rollstuhls wirkten wie von einem klapprigen Einkaufswagen, Geradeausfahren war unmöglich. Eine Debatte um Länge und Beschaffenheit von Hightech-Prothesen schien den Nepalesen, der einen komplett neuen Rollstuhl bekam, eher wenig zu interessieren.

Dass es oft aber tatsächlich auf technische Kleinigkeiten ankommt, ist nicht von der Hand zu weisen. „Der Behindertensport wird immer mehr zum Spitzensport“, meint dazu der deutsche Chef de Mission, Karl Quade. „Es gibt immer mehr Profis und auch das Material wird besser.“

Der technische Einfluss auf den Ausgang von Wettbewerben ist von Disziplin zu Disziplin anders. Zanardi hatte sich nach monatelanger Testphase eine Karbon-Sitzschale gebaut, in die sein Rumpf passte „wie der Schuh von Aschenputtel“. Der Amerikaner Jerome Singleton kann in die Entwicklung seiner Beinprothese das Knowhow der NASA einfließen lassen. Bei der Weltraumorganisation arbeitete der Sprinter einst, am Donnerstag trat er gegen Pistorius an.

Obwohl die Paralympics 2012 höchst professionell über die Bühne gehen und etliche Sportler bereits große Stars sind, steht der Behindertensport nach wie vor noch ganz am Anfang der Entwicklung. Und letztlich geht es um die Athleten, Technik hin oder her. Birgit Kober wurde Paralympics-Siegerin dank Trainings auf einer Hundewiese und mit selbst gebastelter Wurfbank aus alten Bierkisten.

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