Radsport Der (Un)Ruhetag – ein Balanceakt

Lac de Tignes · Radsport: Wie ein Tag ohne Etappe bei der Tour de France abläuft. Ein Blick hinter die Kulissen.

 Tour de France 0607

Tour de France 0607

Foto: TV/Blahak, Mirko

Ruhetag: Ein Wort, das allen Beteiligten vor Ort einen trügerischen Zustand des Durchschnaufens, des Nichtstuns, des angenehmen süßen Lebens für 24 Stunden vorgaukelt. Ein Tag wie gestern ist kein  Wohlfühlbad  des „laissez faire“ zwischen Klettertorturen in mörderischer Hitze oder – wie am Sonntag – bei brutal kalten Temperaturen mit nassen, glitschigen, halsbrecherischen Abfahrten.  Nein, ein Ruhetag bei der Tour de France bringt alles mit sich; Hektik, Termine, Absprachen, Vereinbarungen. Dazu von der Service-Crew gründliche Checks von Rädern und  Begleitfahrzeugen des riesigen Trosses. Ordentlicher „Frühjahrsputz“ beim Teambus, der sowohl rollendes Fünf-Sterne-Hotel als auch Transportgelegenheit mit allen Möglichkeiten der digitalen Kommunikation und Vernetzung ist.

Das Wichtigste für unsereiner an einem solchen „repos“, wie er im Tour-Ablaufplan deklariert wird,  muss schon vorher geklärt werden. Und zwar unter Kolleginnen und Kollegen: Welches Team macht wann wo seine an einem solchen Tag übliche Pressekonferenz? Wer geht zu wem, wer versorgt die „Konkurrenz“ bei einer anderen Equipe vor Ort mit Infos und Zitaten?  Denn die meisten Pressekonferenzen finden in etwa zur gleichen Zeit statt. Und die Team-Hotels liegen in der Regel ziemlich weit auseinander. Da ist Teamarbeit unter den Kolleginnen und Kollegen angesagt.

Solche Meetings sind obligatorisch. An einem solchen Tag zieht die sportliche Leistung eine erste Bilanz, ist (meist) der Kapitän vor Ort. Fragerunden aus der versammelten Journalistenschar sind zeitlich meist knapp bemessen.  Der Wunsch nach Einzel-Interviews, meist am Tag vorher über den Pressesprecher gestellt, bleibt oft  unerfüllt.  Weil Pflege, aktive und passive Regeneration und Abgeschiedenheit vom Rummel Vorrang haben. Ruhetag heißt für die Pedaleure beileibe nicht, dass sich die Helden der Landstraße die Waden durchkneten lassen, etwas Leckeres zu sich nehmen und sich dann zu einem Nickerchen aufs Zimmer zurückziehen. Ruhe bedeutet nach längerem Ausschlafen aktive Gestaltung des Tages. Teammeeting, Analyse, Anschauen des Streckenprofils und Taktik des nächsten Tages. „Radeln“ in kleinen Gruppen. „Simulieren“ im Sattel, miteinander quatschen. Ein Mix aus Regeneration und kontrollierter Belastung.

Der Athletenkörper braucht auch an einem solchen Tag einen sportlichen Reiz. Es gilt, die richtige Balance zwischen Be- und Entlastung zu finden. Ruhe bedeutet auch mentale Erholung. Und am Ruhetag gilt ebenfalls: Die (richtige) Ernährung im Auge behalten: Um jeden Preis den gefürchteten „Hungerast“ vermeiden, der die Regenerationsphase nur unnötig verlängert. 

Die Kommunikation zwischen Journaille und Teams bzw. sportlicher Leitung oder gewünschtem Fahrer hat sich mit zunehmender Digitalisierung und in den beiden Corona-Jahren erheblich gewandelt. Keine Equipe mehr ohne Social-Media-Kanal. Twitter ersetzt zunehmend das informative, sehr oft auch vertrauliche persönliche Gespräch in der Hotel-Lobby.  Im Moment sind die Vorgaben seitens der A.S.O. des Tour-Veranstalters ohnehin so gehalten, dass dem Hygienekonzept Rechnung getragen wird.

Die Ansteckungsgefahr möglichst auf Null herunterfahren. Hier wir. Dort ihr. Dazwischen das Video oder die Sprachnachricht. Die Zeiten, da unsereiner nach einer Etappe abends noch mit einem Mario Cipollini, einem Tom Boonen oder einem Walter Godefroot im kleinen Kreis beisammensaß, gehören zunehmend der Vergangenheit an.

Paris-Roubaix-Sieger John Degenkolb sprach oft von der Bürde der Verantwortung, die seine Generation trage.  Er hatte einmal erläutert: „Wenn man heute sagt, man ist Radprofi, dann wird man nicht mehr direkt in die Schmuddel-Ecke gestellt. Es gab Zeiten, da habe ich kein gutes Gefühl dabei gehabt zu sagen, womit ich mein Geld verdiene.“

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