Das kahle Monster: Schönheit und Schrecken

Montpellier · Nationalfeiertag und der "Schrecken der Provence" am gleichen Tag: Mehr geht nicht in dem Land, das eins ist mit diesem Mix aus Sport, Volksfest und nationaler Identitätsstiftung. Die Tour-Ankunft auf dem Mont Ventoux hat in diesem Jahr eine besondere Bedeutung: Frankreich - eine Nation zwischen EM-Frust, Terrorangst und immerwährender Sehnsucht nach Größe und Bedeutung.

Montpellier. Das Observatorium in 1912 Meter Höhe auf dem kahlen Berg ist das einzig Wahrnehmbare, an dem sich das Auge auf den letzten sechs Kilometern von Chalet Reynard hoch zum Gipfel festhalten kann. Ein visueller Rettungsanker in der flimmernden Luft. In praller, alles ausmergelnder Hitze. Körperliche und mentale Tortur inmitten nackten Gesteins ohne einen Hauch schattenspendender Vegetation. Pervertierung der süßen Duft versprühenden Welt prächtiger Lavendel- und Mohnfelder zu Füßen des "windigen Berges".
Die Provence - das ist Frankreichs Himmel und Hölle zugleich. Schönheit und Schrecken. Heute, zur Feier jenes Tages, der an die Erstürmung der Pariser Bastille im Jahr 1789 erinnert, und der damals nicht weniger als eine neue Epoche der Weltgeschichte einläutete, werden wieder Hunderttausende den Weg der Profi-Radrennfahrer und der ihr voraneilenden "caravane publicitaire" auf diesem 184 Kilometer langen Teilstück säumen. Es hat Tradition, dass die Tour am 14. Juli ein prominentes Etappenziel aufweist. In diesem Jahr wird die Symbolik von besonderer Bedeutung sein, auch wenn die Etappe wegen erwarteter Windgeschwindigkeiten von 100 Kilometern pro Stunde kurzfristig um sechs Kilometer verkürzt wurde.
Vier Tage nach dem EM-Schock von St. Denis wird ein Land, das von Terrorangst, von unbewältigten sozialen Konflikten und gewerkschaftlichen Exzessen gebrandmarkt ist, für einen Moment innehalten und seine Einzigartigkeit beschwören. Das Spektakel hinauf von Bédoin und die Ankunft auf dem Ventoux wird das Unvergleichliche eines jährlich wiederkehrenden gemeinsamen Rausches manifestieren. "Le Tour", das ist Frankreich. Ein Stück blau-weiß-roter Leichtigkeit, aber auch heroischer Größe und nationalen Stolzes. Es hat den Anschein, als wolle das ganze Land das Trauma des verlorenen EM-Finales möglichst schnell verdrängen und vergessen lassen. L'Equipe stellt einen Tag vor der Ventoux-Etappe die Frage nach dem ersten französischen Tagessieger der Rundfahrt in diesem Jahr. Und spekuliert darüber, ob der Luxemburger Gerard Lopez, Besitzer des Lotus F1-Teams und Präsident des großherzoglichen Fußballklubs Fola Esch, ein Interesse an der Übernahme des Renommierklubs Olympique Marseille habe. Raus aus dem Portugal-Schock, zurück zur Normalität: Das ist die Devise auch in den Sport-Gazetten.
Um Serignan, unweit des regionalen Flughafens von Le Cap-d'Agde gelegen, macht die Tour in diesem Jahr auf ihrem Weg von Carcassonne nach Montpellier am Tag vor der Ventoux-Etappe einen Bogen. In einem der Straßencafés liest ein Gast die tägliche Tour-Kolumne von Daniel Mangeas. Der langjährige Streckensprecher der Rundfahrt ist jetzt umworbener Gastschreiber. Als wir den Mann mit seiner Zeitung freundlich ansprechen und von ihm wissen möchten, ob Frankreich die Final-Niederlage inzwischen verdaut habe, meint dieser nur, die EM sei nun zu Ende. Aber "le tour, c'est toujours." - "Die Tour ist immer." Und wird es immer bleiben.Extra

11. Etappe: Chris Froome hat zum zweiten Mal bei dieser Tour de France tief in die Trickkiste gegriffen. Der Mann im Gelben Trikot attackierte auf der scheinbar den Sprintern vorbehaltenen Flachetappe nach Montpellier 12 Kilometer vor dem Ziel und nahm seinen direkten Konkurrenten um den Toursieg zwölf Sekunden ab. Den Tagessieg nach 162,2 Kilometern sicherte sich am Mittwoch Peter Sagan. Der Slowake hatte die Attacke initiiert. Der Weltmeister im Grünen Trikot feierte seinen zweiten Tagessieg. Froome, der nicht nur die anderen Topfavoriten sondern auch die versammelte Sprinter-Elite um Mark Cavendish, Marcel Kittel oder André Greipel genarrt hatte, wurde Zweiter. Der schlaue Brite hatte schon in der vergangenen Woche bei der Abfahrt vom Peyresourde in den Pyrenäen mit einem Angriff überrascht. Froome geht jetzt mit 28 Sekunden Vorsprung auf seinen zweitplatzierten Landsmann Adam Yates auf die womöglich vorentscheidenden Etappen. dpa

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