Die Neun ist nicht das Nonplusultra

Am heutigen Freitag beginnen bei den Sommerspielen in Rio die Leichtathletik-Wettbewerbe. Im Interview mit unserem Mitarbeiter Stefan Klüttermann bezieht Deutschlands Vorzeigesprinter Julian Reus Stellung zu Dopingproblemen in der olympischen Kernsportart, zur ominösen Neun vor dem Komma und zu seinen Ambitionen.


Herr Reus, wie sehr haben die negativen Schlagzeilen rund um die Dopingvergehen der russischen Leichtathletik ihrer Sportart in den vergangenen Monaten geschadet?
Reus: Speziell zum Fall Russland habe ich mich nicht geäußert, und dabei bleibe ich auch. Aber das Thema Doping ist ja nicht erst jetzt durch Russland aufgekommen. Das gibt es ja schon länger, gerade wenn man sich die Sprintdisziplinen anguckt. Ich werde inzwischen quasi bei jeder Gelegenheit auf dieses Thema angesprochen. Und manchmal habe ich das Gefühl, die Leichtathletik wird nur noch auf Doping reduziert.
Verlieren Sie deswegen nicht manchmal den Spaß an dem, was sie tun?
Reus: Nein. Ich habe einfach eine andere Motivation, diesen Sport zu betreiben. Ich empfinde seit Kindertagen eine unglaubliche Leidenschaft für die Leichtathletik und einen starken inneren Antrieb, diesen Sport auszuüben und schnell zu rennen. So schaffe ich es, das ganze negative Drumherum immer wieder auszublenden.
In Deutschland scheint die Leichtathletik gerade so etwas wie eine kleine Renaissance zu erleben. Es gibt frische Gesichter und neue Erfolge.
Reus: Das sehe ich auch so. Die Leichtathletik ist wieder gefragt. Und wenn man sich die internationalen Rahmenbedingungen anguckt, kann man es gar nicht hoch genug bewerten, dass man es in Deutschland schafft, unsere Leistungen differenziert zu betrachten. Gerade auch durch die Zuschauer.
Dürfen diese Zuschauer dann im Gegenzug auch einen Usain Bolt gut finden?
Reus: Das muss jeder selbst entscheiden. Da kann ich den Leuten ja nicht ihre Meinung vorschreiben.
Okay, dann so gefragt: Dürfen die Zuschauer einen Usain Bolt gut finden, weil er unglaubliche Hebel besitzt? Und die Dopingverdächtigungen gegen ihn trennt man eben davon?
Reus: Ich glaube schon, dass er eines der größten Sprinttalente ist, die es gibt - gerade aufgrund seiner Hebel. Fakt ist auch, dass er über all die Jahre kein Dopingvergehen hat. Von daher ist jede Spekulation darüber unseriös. Dass die Dopingkontrollen in Jamaika als unzureichend in der Kritik stehen, ist eine andere Sache. Aus all diesen Aspekten kann sich dann jeder sein eigenes Bild machen.
Sie haben den deutschen Uraltrekord über 100 Meter gebrochen und waren bei der WM im Vorjahr in Peking der erste Deutsche im Halbfinale seit 1983. Fühlen Sie sich ob ihrer Leistungen genug wertgeschätzt?
Reus: Das ist eine schwierige Frage. Meist bemisst einen die Öffentlichkeit am maximalen Erfolg, also ob man im WM-Finale steht oder bei Olympia eine Medaille holt. Das ist für mich als Sprinter nahezu unmöglich, denn die internationale Spitze ist eben ein, ja zwei Schritte voraus. Und manchmal entscheiden tausendstel Sekunden, ob man ein EM-Finale erreicht oder nicht. Deswegen muss man etwas finden, worüber man sich letztlich selbst wertschätzt. Für mich ist zum Beispiel die Frage wichtig: Wie stabil bin ich über die Jahre in meinen Leistungen? Mir ist es so gelungen, seit 2012 jedes Jahr unter 10,10 Sekunden zu laufen, was für mich unglaublich ist.
Kurz vor Olympia haben Sie Ihre Bestzeit auf 10,01 Sekunden geschraubt, die ominöse Neun vor dem Komma kommt also immer näher. Welche Rolle spielt diese Schallmauer für Sie?
Reus: Die Neun vor dem Komma spielt für mich nur insofern eine Rolle, als ich in jedem Interview darauf angesprochen werde. Denn man kann eine solche Zeit einfach nicht planen, dafür hängt ein perfektes Rennen an zu vielen Faktoren: Bahn, Zeitpunkt, Form oder Wind.
Ich kann in der Form meines Lebens sein: Wenn ich wie bei den Deutschen Meisterschaften in Kassel zwei Meter Gegenwind habe, werde ich nicht unter zehn Sekunden laufen können. Ich werde alles versuchen, um noch schneller zu laufen. Aber ich werde meine Karriere im Rückblick nicht danach bewerten, ob ich die Zehn-Sekunden-Grenze habe knacken können.
Eine Bestzeit unter zehn Sekunden dürfte in jedem Fall bei der Selbstvermarktung helfen. Oder muss man heute als Leichtathlet zwingend ein extrovertierter Typ wie Robert Harting sein, um aufzufallen?
Reus: Das glaube ich nicht. Bei Robert Harting ist das einfach sein Naturell. Wichtig wird immer erst die Leistung sein, ansonsten kann man große Töne spucken, wie man will.
Ohne große Töne zu spucken - was ist für Sie drin in Rio, in den Einzelrennen und mit der Staffel?
Reus: Ich will für mich gute Einzelrennen machen, dann wird auch das Ergebnis stimmen. Wofür genau das dann reicht, muss man abwarten. In der Staffel kann man dann schon konkreter werden. Da wollen wir natürlich erstmal in den Endlauf kommen und dann wie bei der vergangenen WM natürlich auch gerne um eine Medaille mitlaufen.

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