"Wir haben den alten Traum der Menschheit vom Fliegen verwirklicht"

Kell · Großes TV-Interview mit Skisprung-Weltmeister und Olympiasieger Severin Freund - Ein Gespräch über Limits im Skifliegen, Grenzen der Physik, Sponsorendruck, Magersucht-Vorwürfe und seine eigene Zukunft.

 Spektakulärer Blickwinkel: Severin Freund bei einem Trainingssprung auf der Bergisel-Schanze in Innsbruck. Die Sportart hat seit dem Hype um Martin Schmitt und Sven Hannawald nichts an ihrer Popularität eingebüßt. Die Athleten bewegen sich teilweise im Grenzbereich zwischen Sicherheit und Verantwortung für Leib und Leben. Foto: dpa

Spektakulärer Blickwinkel: Severin Freund bei einem Trainingssprung auf der Bergisel-Schanze in Innsbruck. Die Sportart hat seit dem Hype um Martin Schmitt und Sven Hannawald nichts an ihrer Popularität eingebüßt. Die Athleten bewegen sich teilweise im Grenzbereich zwischen Sicherheit und Verantwortung für Leib und Leben. Foto: dpa

Foto: Hendrik Schmidt (g_sport

Kell In Deutschland ist Skispringer Severin Freund aktuell die Galionsfigur einer Sportart, die vor rund 20 Jahren einen Hype auslöste und seitdem an den Fernsehbildschirmen Einschaltquoten erreicht wie Formel-1-Rennen zu besten Michael-Schumacher-Zeiten. Am Rande eines Besuchs in Kell (Kreis Trier-Saarburg) sprach der Team-Olympiasieger von 2014, Gesamtweltcup-Sieger und Weltmeister von der Großschanze 2015 mit TV-Mitarbeiter Jürgen C. Braun über seine Situation nach einem im Januar erlittenen Kreuzbandriss, über die Begleitumstände einer Sportart, die zwischen Waghalsigkeit und Unberechenbarkeit an der Grenze des physikalisch und technisch Machbaren balanciert sowie über die mentalen und körperlichen Belastungen, denen alle Beteiligten ausgesetzt sind.Herr Freund, wie geht es Ihnen nach Ihrem Kreuzbandriss Ende Januar?FREUND Die Operation ist gut verlaufen, die ersten Wochen in der Reha waren zäh, man meint, gar keine Fortschritte zu verspüren. Inzwischen sind wir mit der Physiotherapie so weit, dass das ganze System mit Bändern, Muskeln, Gelenken stabil bleibt. Wenn der Heilungsprozess weiter so gut verläuft, werde ich im Juli hoffentlich in das normale Sommertraining einsteigen können.Bei optimalem Heilungsprozess werden Sie spätestens kurz vor Beginn der Vierschanzen-Tournee wieder in der Öffentlichkeit stehen. Wie bewerten Sie Stellenwert und mediale Auswirkungen dieser einen Woche von Oberstdorf bis Bischofshofen?FREUND Die Tournee ist Fluch und Segen für uns zugleich. Ohne sie hätten wir sehr viel weniger Aufmerksamkeit in den Medien. Vor allem die Fernsehpräsenz wirkt sich natürlich sehr auf das Interesse von Sponsoren der Tournee aus. Das ist die eine Seite der Medaille. Andererseits ist es schade, wenn man eine Sportart fast nur über einen einzigen Wettbewerb innerhalb einer Woche definiert. Klar würde ich die Tournee gerne mal gewinnen. Aber es ist falsch, wenn man das so hinstellt, als wäre ich meinem größten sportlichen Erfolg bisher vergeblich hinterhergejagt. Der Gewinn des Gesamtweltcups war für mich sportlich viel wertvoller als ein Gesamterfolg bei den vier Tournee-Springen. Da muss man Konstanz über eine ganze Saison auf Anlagen mit ganz verschiedenem Charakter zeigen. Aber die sportlich wertvollere Leistung ist nicht immer die für die mediale Transparenz am besten Geeignete.Sie springen im Lauf der Saison mitunter vor bis zu 25 000 Zuschauern. Die Wettbewerbe sind teilweise regelrechte Show- und Society-Events. Worauf führen Sie das zurück?FREUND Das begann damit, dass RTL in den 1990er Jahren die Übertragungsrechte gekauft hatte. Die haben das unheimlich gepusht. Dann kam alles zusammen: Mit Martin Schmitt und Sven Hannawald zwei Sympathieträger, die bei jungen Menschen gut ankamen und erfolgreich waren. Dann stehen plötzlich die Sponsoren Schlange, und du gerätst in so eine Aufwärts-Spirale. Wenn die Marketing-Leute das geschickt konservieren und das Konzept immer weiter verbessern, kommt so was dabei heraus. Aber es steht und fällt natürlich alles mit dem sportlichen Erfolg. Unsere Einschaltquoten sind heute ja nicht schlechter als zu der Zeit, als Hannawald alle vier Tournee-Springen gewonnen hat.Sie waren zu dieser Zeit gerade mal 13/14 Jahre alt. Wie kommt ein junger Mensch zum Skispringen?FREUND Bei mir zu Hause waren drei Jungs in der Nachbarschaft, die haben das im Skiclub gemacht und haben mich mal mitgenommen. Da sind wir zuerst mit den Übungsleitern so ein bisschen rumgehüpft, und das hat mir Spaß gemacht. Dann kam das Langlaufen dazu, und ich habe mich schon früh in der nordischen Kombination versucht. Irgendwann hab ich dann gemerkt, dass mir das Springen am besten liegt, und ich bin dabei hängengeblieben.Was ist das Faszinierende an Ihrer Sportart?FREUND Ich glaube, es ist das Geheimnisvolle, das Unergründliche. Die Tatsache, dass man es nicht selbst ausprobieren kann. Wenn man am Fernsehen beim Fußball, beim Schwimmen, beim Radsport oder beim Laufen zuschaut, kann man halt mal versuchen, ob einem das Spaß macht. Und ob man vielleicht Talent dazu hat. Aber ob einem Skispringen Spaß macht, das kann man halt nicht ausprobieren. Vielleicht personifizieren wir Skispringer für viele Leute den wahrgewordenen alten Menschheits-Traum, fliegen zu können.Schon die Wettbewerbe auf der Normalschanze und auf der Großschanze haben für die Fernsehkonsumenten ihren Reiz. Dann aber das Extreme: Skifliegen. Wie stehen Sie zum Skifliegen und allen damit verbundenen Unwägbarkeiten?FREUND Der Unterschied zwischen der Großschanze und dem Skifliegen ist noch einmal eine ganz andere Hausnummer als der zwischen der Normal- und der Großschanze. Es gibt ja auch nur ein paar Schanzen, auf denen man 200 Meter und mehr fliegen kann. Wir werden sukzessive an diese extremen Herausforderungen herangeführt, das geht nicht von heute auf morgen. Jeder von uns weiß, auf was er sich einlässt, wenn er in Vikersund, in Oberstdorf oder in Planica oben steht. Das Problem ist auch nicht der Flug, der sieben oder acht Sekunden dauern kann. Das Problem sind Absprung und Landung. Wenn du den richtigen Flug erwischst, ist es eigentlich ziemlich egal, wie lange er dauert.Was empfinden Sie, wenn Sie auf einer solchen Schanze oben auf dem Balken sitzen und anfahren?FREUND Keine Angst, aber Respekt. In diesem Bereich ist vieles Kopfsache, man muss sich mental an diesen Grenzbereich herantasten. Das geht nicht von heute auf morgen. Und jeder geht anders damit um, es gibt da kein Patentrezept.Der Weltrekord liegt mittlerweile bei 253 Metern. Oder anders herum: Menschen fliegen einen viertel Kilometer weit mit Skiern an den Füßen durch die Luft! Wo ist das Ende, wo ist definitiv Schluss?FREUND Es gibt kein Limit. Einst hat man gesagt, der Mensch könne nicht über 100 Meter weit springen, weil der Körper das nicht aushielte. Heute wären wir Athleten die Ersten, die sagen, wir fliegen 300 Meter weit, wenn es eine Schanze dafür gibt. Red Bull hat mal überlegt, in einem Tal in Österreich ein solches Riesenteil zu bauen. Das müsste dann aber ausschließlich im Schatten liegen, weil keine Thermik aufkommen dürfte. Was aus dieser Idee geworden ist, weiß ich allerdings nicht.Sie springen in Einzelfällen unter Bedingungen, in denen der Bereich zwischen Sicherheit und Verantwortung für Leib und Leben der Athleten verschwimmt. Fühlen Sie sich bei Entscheidungen von Verantwortlichen, ein Springen unter allen Umständen durchziehen zu wollen, unter Druck gesetzt?FREUND Es gibt einen ständigen Dialog zwischen Athleten, Trainern und Walter Hofer, dem Renndirektor des internationalen Verbands. Eine Entscheidung per Dekret erfolgt also nicht. Für die Veranstalter hängt unter Umständen die ganze Jahreskalkulation davon ab, ihr Event zu Ende zu bringen. Da geht es um große Summen. Und auch wir sollten uns nichts vormachen. Wir springen, weil es Prämien gibt, wir verdienen daran. Aber es ist sehr diffizil. Die Experten arbeiten in der Regie mit den allerbesten Messgeräten und sind in der Lage, Windtendenzen immer besser vorherzusagen. Aber wir können die Natur nicht beeinflussen, In letzter Konsequenz müssen wir uns ihr beugen. Das steht über allem.Skispringer sind Top-Athleten, in puncto Fitness und Athletik gibt es zwischen den Sportlern kaum noch Unterschiede. Ist das Ringen um Medaillen, um Titel und damit auch um Preisgelder und Sponsoren ein Wettrennen der Systeme geworden? Wird in Zukunft nur noch derjenige erfolgreich sein, der sich die besten Labore, die aufwendigsten Windkanäle, die besten Physiker, die besten Anzugdesigner leisten kann?FREUND Die Crux bei uns ist, dass sich die Regeln zu häufig ändern, beispielsweise was die Beschaffenheit unserer Anzüge oder anderer technischer Ausrüstungs-Gegenstände angeht. Natürlich wird es für Nationen mit einem größeren Budget leichter sein, ihr Entwicklungspotenzial in diesem Grenzbereich noch auszuloten. Aber die Schritte werden immer kleiner, die Entwickler tasten sich da schon lange an die Grenzbereiche der Physik heran.Ihre Sportart geriet vor Jahren in die Kritik. Es hieß, Athleten würden in die Magersucht getrieben. Stimmt die Gleichung niedriges Gewicht = größere Weite eigentlich?FREUND Es gewinnt nicht der, der den geringsten BMI (Body Mass Index) hat. Außerdem sind diese Vorwürfe von den angeblichen ,Papier adlern' schon gut zehn Jahre her. Mittlerweile gibt es Studien, die belegen, dass neben dem Gewicht die Technik und die Erfahrung des Springers mindestens gleichwertige Parameter sind. Ich jedenfalls fühle mich nicht unter Druck gesetzt. Ich habe jetzt zur Reha-Zeit mein Gewicht (68 Kilo bei 1,85 Metern) wie in der Saison. Allerdings mit einem etwas höheren Fettanteil, aber das ist auch für den Heilungsprozess so gewollt.Der Japaner Noriaki Kasai ist 45 Jahre alt geworden und gehört immer noch zu den besten Ihrer Zunft weltweit. Machen Sie sich mit 29 Jahren bereits Gedanken um das mögliche Ende Ihrer sportlichen Laufbahn?FREUND Eines steht jetzt schon fest: Mit 45 werde ich ganz sicher nicht mehr springen. Aber ich sage nichts voraus. Ich bin niemand, der sich im Kopf Schranken setzt. Wenn ich jedoch merke, dass ich keine Motivation mehr verspüre, wenn ich der Meinung bin, dass ich meine Ziele erreicht habe und an meinen Grenzen angekommen bin, dann wird definitiv Schluss sein. Und das werde ich dann mit einem guten Gefühl tun.Jürgen C. BraunInterview Severin FreundExtra: ZUR PERSON SEVERIN FREUND

"Wir haben den alten Traum der Menschheit vom Fliegen verwirklicht"
Foto: Robert Schlesinger (g_sport

Geboren am 11. Mai 1988 in Freyung (Niederbayern) Verein: WSV DJK Rastbüchl Debüt im Weltcup: 22. Dezember 2007 Die größten Erfolge: Team-Gold 2014 bei Olympia in Sotschi Einzel-Gold von der Großschanze sowie Gold mit dem Mixed-Team bei der Nordischen Ski-WM 2015 in Falun Skiflug-Weltmeister 2014 in Harrachov Gesamtweltcup-Sieger 2014/15

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