Sorge vor Turn-WM: Angst fliegt mit nach Tokio

Göppingen (dpa) · Das Grummeln in der Magengegend ist geblieben. Die deutschen Turnstars Philipp Boy und Marcel Nguyen, die am Wochenende in Göppingen um die Tickets zur Weltmeisterschaft in Tokio kämpfen, müssen nun aus der Not eine Tugend machen.

Unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima hielten beide eine Austragung der Titelkämpfe in Japan wegen der atomaren Bedrohung noch für ausgeschlossen. Seit der Weltverband FIG aber entschied, die Titelkämpfe (7. bis 16. Oktober) doch in Tokio auszutragen, haben die Athleten kaum eine Wahl.

„Was soll man machen? Wir wollen zu Olympia. Und die Tickets müssen wir in Tokio holen“, meinte Nguyen, der am Samstag seinen Mehrkampf-Titel verteidigen möchte, nach der ersten WM-Qualifikation in Altendiez. In Tokio gilt er als einer der Favoriten, nicht nur im Mehrkampf, sondern auch am Barren, an dem er bei der EM in Berlin den Titel holte. Zaghafte Versuche, eine Resolution der Sportler vieler Nationen anzuregen, verliefen im Sande. Die Deutschen wollten jedenfalls nicht die Initiative gegen den FIG-Beschluss ergreifen.

„In letzter Zeit war es ja sehr ruhig. Aber ich glaube, die Situation in Japan ist genauso brisant wie vor zwei Monaten“, meinte Boy, der große Rivale von Nguyen in Göppingen. „Aber wenn alle Verantwortlichen uns bestätigen, dass wir nicht gefährdet sind, muss man ihnen glauben. Auf jeden Fall werde ich versuchen, dort so wenig wie möglich auf die Straße zu gehen“, fügte der Cottbuser, der sich im April die Mehrkampf-Krone Europas aufsetzte, hinzu.

„Natürlich ist das Bauch-Grummeln weiter da“, bestätigte Rainer Brechtken, der Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB). Er hatte wie auch andere DTB-Verantwortliche in den zurückliegenden Wochen klärende Gespräche mit allen Beteiligten geführt. „Das eine sind die Gefühle und das andere die Fakten, gegen die man etwas unternehmen müsste“, sagte er. „Und diese gibt es nicht. Wenn selbst das Auswärtige Amt und die UNO die Reisewarnungen aufheben und offiziell Entwarnung geben, gibt es für uns keine rechtlichen Gründe, gegen den Austragungsort vorzugehen“, meinte Brechtken.

Bei noch minderjährigen Turnerinnen habe man die Eltern in die Diskussion einbezogen, sagte er. Einige waren von der Situation überrascht worden. „Ich bin da wirklich ratlos, ganz ehrlich ratlos“, meinte die Mutter der 17-jährigen Nadine Jarosch. „Seit Wochen ist das kein Thema mehr“, ist Brechtken indes überzeugt.

Sehr gut kann sich Cheftrainer Andreas Hirsch in die Gefühlswelt seiner Athleten hineinversetzen. „Schließlich bin ich ja zu 100 Prozent betroffen. Ich kann nicht sagen: Macht's mal gut in Tokio, in London bin ich wieder dabei“, meinte der Berliner. „Ich sehe mich auch nicht als Einpeitscher. Ich bin selber hin- und hergerissen.“ Es gelte, vor allem „positive Meldungen aus Japan“ zu verarbeiten, damit man mit freiem Kopf in die WM gehen könne.

Ein wenig ärgert sich Hirsch, dass von einigen Verbänden in Sachen Tokio zu viel im Hintergrund gearbeitet wurde. „Das war wie stille Post. Das hatte keinen Absprachewert“, meinte er. So habe der russische Cheftrainer Alexander Rodionenko, der sich in Gesprächen als Tokio-Gegner geoutet hatte, nie den Kontakt zum DTB gesucht.

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