Impressionen von der Tour de France Das karge Jura im feinen Sonntagszwirn

OYONNAX · Beobachtungen zum Start der ersten Hochgebirgsetappe der Tour de France – Was macht Corona, wenn überhaupt, mit den Menschen am Rand. TV-Mitarbeiter Jürgen C. Braun hat sich vor Ort umgeschaut.

 Oyonnax am Samstagmorgen: Die Hauptstadt des französischen Jura im Zeichen der Tour de France.  

Oyonnax am Samstagmorgen: Die Hauptstadt des französischen Jura im Zeichen der Tour de France.  

Foto: Jürgen C. Braun/Picasa

Corona-Tour-de-France 2.0. Frankreich im Ausnahmezustand?  Oder doch eher nicht? „Nur Kriege konnten die Tour de France bisher stoppen. Dabei wird es auch bleiben.“ Im Brustton tiefster Überzeugung ließ Tour-Direktor Christian Prudhomme im vergangenen Jahr keinen Zweifel daran, dass sich das große dreiwöchige Spektakel, das Millionengeschäft auf zwei und vier Rädern, vom Coronavirus nicht würde aushebeln lassen. Er sollte recht behalten. Wenngleich auch vieles anders war. Anders sein musste als in mehr als hundert Jahren zuvor. „Le Tour“ zog in ihrer eigenen Blase durchs Land.

Die Zweifel, ob ein Radrennen  inmitten explodierender Infektionszahlen überhaupt Sinn ergibt und angebracht ist, wurden 2020 mit dem Besuch von Staatspräsident Emmanuel Macron im Auto neben Prudhomme auf der Etappe zum Col de la Loze von höchster Seite mit einem klaren „Oui“ beantwortet. Und jetzt, ein Jahr später? Das Virus ist längst (noch) nicht besiegt. Der Präsident ist derzeit auf Wahlkampfreise und hat angesichts sinkender Umfragewerte andere Sorgen, als sich beim rollenden Nationalheiligtum zu zeigen. Noch jedenfalls.

Wie also sieht es vor Ort aus? Dort, wo der große Tour-Tross und seine Freunde, Anhänger und Bewunderer unmittelbar aufeinandertreffen. Wir sind auch in diesem Jahr dabei. Am Puls der „Großen Schleife“.

So wie hier: In Oyonnax. Gelegen in der Region Auvergne-Rhône-Alpes. Eine Stadt mit etwas mehr als 20 000 Einwohnern im französischen Jura. Städten dieser Größenordnung geben Prudhomme und Co. gerne die Ehre, einmal „Ville départ“, also Etappenstart, zu sein. So wie am Samstagmorgen. Drüben, auf der anderen Seite des virtuellen Schlagbaumes, wo sich die warmen Winde vom französischen Jura Richtung „Lac Leman“, an den Genfer See, nach Lausanne und Nyon hinabkuscheln, sieht man das Jura inmitten der mondänen Welt von Reich und Schön als eine Art hässliche Schwester hinter den Bergen. Ein bisschen Aschenputtel.

Viel harte Arbeit für wenig Brot inmitten der vielen Industriezentren der Region. Oyonnax hat etwas aus sich gemacht, ist heute Zentrum des französischen Plastics Vallée. Heute, an einem Samstag, hat die Stadt ihren feinsten Sonntagszwirn angelegt. Die Hausfassaden geschmückt. Um 13.15 Uhr soll der Start zur achten Etappe erfolgen. Hinauf nach Le Grand-Bornand.

Zwei Stunden vorher schlängelt sich der lärmende Lindwurm der Werbekarawane, der „publicitaire“, dem Feld voran. So ein bisschen Rosenmontag auf Französisch mit viel, viel buntem, schreiendem Kommerz.

Schon am frühen Samstagmorgen sind alle Zufahrtswege verbarrikadiert. Die Gendarmerie, alle Angehörigen mit Mundschutz-Pflicht, hat mit schweren, unverrückbaren, eisernen Schutzgittern dafür Sorge getragen, dass das von Terroranschlägen gezeichnete Land hier und heute nicht wieder Opfer werden kann.

Dort, wo die Teambusse stehen, an denen sich bis zum vergangenen Jahr die betreffenden Fahrer auf unzähligen Selfies mit Radsportfreunden hatten ablichten lassen, ist in diesem Jahr Tabula rasa für die Fans. „Wir wollen kein Risiko einer Infektion eingehen“, hatte nicht nur Team Bora-Hansgrohe vor Beginn der Tour verlauten lassen. Die Raublinger haben sich wie alle anderen Equipen an die strikten Vorgaben von Veranstalter A.S.O zu halten.

Je weiter der Zeiger der Uhr vorrückt, umso ungemütlicher wird es am Himmel, und die ersten schweren Tropfen fallen. Die Besitzer  der kleinen Patisseries in der Rue Bichat im Stadtzentrum, dort wo caravane und Fahrer später passieren, haben Tische und Stühle schon früh nach draußen gestellt. Die Stadt lebt an diesem Tag, und sie tut es offensichtlich gerne. Café noir reiht sich auf den kleinen Tischen an einen frühen vin blanc.  Die Menschen sind erwartungsfroh gestimmt. Masken im öffentlichen Raum? Fehlanzeige. An jedem Schaufenster, jedem Hoteleingang aber hängt der freundliche, aber bestimmte Hinweis, dass ohne Mundnasenschutz drinnen nichts geht.  Auch der Dauphine Libéré, das regionale Blatt, macht die Pandemie nicht zum Thema an diesem Tag. Genauso wenig wie die Equipe Tricolore, die seit dem Scheitern bei der EM gegen die Schweiz anderen Themen Platz gemacht hat.

Als der Pulk der Fahrer sich Schulter an Schulter um die Mittagszeit aus der Stadt hinausschiebt, stehen die Menschen dichtgedrängt am Straßenrand und applaudieren. Abstand? Wo? Warum? Was Zehntausende von Kicker-Horden zwischen Baku, St. Petersburg und  Wembley vormachen, fällt hier auf „fruchtbaren“ Boden.

Oyonnax hängt kurz darauf das bunte, vorwiegend gelbe, Kleid an den Häuserfronten wieder ab und mutiert zum gewohnten Grau in Grau zwischen eintönigen Jura-Felsen. Bis irgendwann wieder einmal. Ob mit oder ohne Virus.

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