Der Deutsche, der Luxemburger und der große Unbekannte

Brüssel · Martin Schulz und Jean-Claude Juncker sind mit mäßigem Erfolg als europäische Spitzenkandidaten präsentiert worden. Doch es ist nicht einmal sicher, ob einer der beiden oder ein anderer künftig die EU-Kommission leitet.

Brüssel. Martin Schulz, gemeinsamer Spitzenkandidat der Sozialdemokraten im EU-Parlament, muss seine Hoffnungen auf den Chefsessel der Kommission trotz des SPD-Rückstands auf die Union in Deutschland bei dieser Europawahl keineswegs begraben. Der Posten-Poker hat mit dem Wahlabend begonnen.
Dabei kann das Experiment der europäischen Spitzenkandidaten schon jetzt als nur mäßig erfolgreich gelten. Die Idee: Ein Duell der Köpfe und Konzepte für Europa sollte die Wahlbeteiligung aus dem Keller holen. Sie sinkt seit Jahren, zuletzt 2009 auf das Rekordtief von 43 Prozent. Erste Trends am Sonntagabend deuteten daraufhin, dass diesmal noch weniger Europäer als vor fünf Jahren an die Urnen gingen.
Das allein den Spitzenkandidaten anzulasten, wäre falsch. Europawahlen sind und bleiben zu einem Großteil Abstimmungen über die Zufriedenheit mit der jeweiligen nationalen Politik. Zudem war diese Europawahl die erste nach der Schuldenkrise - mit immer noch historisch hoher Arbeitslosigkeit in einer Reihe EU-Staaten. Europa erscheint vielen Bürgern daher derzeit nicht als Garant für Wohlstand, sondern als Bedrohung desselben - auch wenn das so nicht stimmt.
Dennoch hätten die beiden Protagonisten dieser Kampagne - der Sozialdemokrat Martin Schulz (58) und der konservative Jean-Claude Juncker (59) - mehr dafür tun können, das Interesse der Wähler zu wecken. Zwar reisten sie in Hunderte Städte von Berlin bis Rom, absolvierten Dutzende Fernsehdebatten und gaben Interviews wie am Fließband. Beim Wähler setzte sich aber vor allem ein Eindruck fest: eine echte Wahl gibt es nicht, weil sich beide so sehr ähneln, dass sie sich den Job des Kommissionspräsidenten prima teilen könnten. "Die beiden haben ein Duett statt ein Duell veranstaltet und damit der europäischen Demokratie geschadet", kritisiert FDP-Spitzenmann Alexander Graf Lambsdorff.
Wahr ist: Viele Wähler suchten offenbar eine Alternative zum Konsens der Mehr-Europa-Befürworter. Denn ein Teil der Wähler beschert nun Populisten, Extremisten und Anti-EU-Kräften Erfolge - etwa in Großbritannien und Frankreich. Das schadet Europas Image und verstärkt den Druck auf die etablierten Parteien, zusammenzurücken, damit die EU-Hasser vom links und rechts nicht in die Rolle des Mehrheitsbeschaffers schlüpfen.
Das gilt schon für die erste große Entscheidung der neuen Legislatur: die Wahl des Kommissionspräsidenten. An dieser Personalie entscheidet sich, ob das Novum der Spitzenkandidaten ein ausbaubarer Anfang oder ein einmaliger Rohrkrepierer war. Denn Schulz und Juncker haben die Europäer auch mit dem Versprechen gelockt, dass sie erstmals mit ihrem Kreuz indirekt über den Chef der mächtigen Brüsseler Gesetzesschmiede mitentscheiden. Denn der Kandidat der europaweit stärksten Partei soll den Top-Job bekommen.
So weit die Theorie. Ob dies in der Praxis auch so kommt, muss sich zeigen. Der Vertrag von Lissabon sieht lediglich vor, dass die 28 EU-Staats- und Regierungschefs nach Konsultation mit dem Parlament und unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses einen Kandidaten vorschlagen. Der muss von den EU-Volksvertretern mit absoluter Mehrheit (376 von 751 Stimmen) gewählt werden. Konservative, Sozialdemokraten und Liberale haben angekündigt, nur einen der Spitzenkandidaten zu akzeptieren. Alles andere sei "Volksverdummung" und führe zu einer "institutionellen Krise". Londons Premier David Cameron hingegen will auf keinen Fall Schulz oder Juncker auf dem Sessel des Kommissions- chefs. Es droht ein Machtkampf der Institutionen.

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