Der Pilger und die Schlange

Eine Warteschlange bildet sich laut Wikipedia, wenn mehr Anforderungen pro Zeiteinheit an ein System gerichtet werden, als dieses in derselben Zeit verarbeiten kann. Der gewöhnliche Homo erectus bekommt beim Anblick einer Warteschlange gewöhnlich einen Schreck, überlegt sich, dass sein ursprüngliches Anliegen nicht so wichtig war, und flüchtet.

Es sei denn, er steht für Bier an, für ein Bayernspiel (nicht dass ich das würde!), den Skilift oder für Schwenkbraten. Dann gewinnen oft niedere Instinkte die Oberhand: Der Anstehende tut völlig ungehemmt alles Erdenkliche, um möglichst schnell ans Ziel zu kommen. Eine weitere Ausnahme scheint zu gelten, wenn man für einen Heiligen Rock ansteht (an den insbesondere zwischen 11 und 16 Uhr hohe Anforderungen pro Zeiteinheit gestellt werden). Der Fluchtinstinkt bleibt aus. Das hat mehrere Gründe. Erstens: Wer Hunderte Kilometer anpilgert, um eine Reliquie zu sehen, lässt sich von einer Schlange nicht schrecken. Zweitens: Die Schlange ist Teil der Pilgerfahrt. Gesang, Gebet und das gemeinschaftliche Praktizieren von Geduld bereiten auf die Begegnung mit dem Rock vor (der schließlich auch lange darauf warten musste, endlich mit den Pilgern zusammenzukommen). Drittens: Pilger sind einfach hart im Holen. Und - so dachte ich zumindest: Sie haben keine niederen Instinkte. Doch was musste ich dann von einem netten Helfer erfahren? Es gibt offenbar Pilger, die hemmungslos versuchen, sich nach vorn zu schwindeln. Die einen haben angeblich vergessen, ihren Faden am Webstuhl abzugeben (der deutlich näher am Eingang liegt als das Ende der Schlange). Die anderen gehören zum Pastor da (dem, der gerade im Dom verschwindet). Noch andere haben sich in der Schlange geirrt. Sie sind (achso, huuups) keine angemeldete Gruppe. Und dann gibt\'s die Stehproblemfraktion ohne Behindertenausweis. Aber mit Rücken. Und Hüftweh. Und Plattfuß. Na und was macht man als Helfer - da man doch nicht wissen kann, wer wirklich Rücken hat und wer nur schwindelt? Man bedient sich einer fast vergessenen uralten christlichen Taktik und drückt einfach ein Auge zu. In ihrer Kolumne "Trier rockt" macht sich unsere Redakteurin so ihre Gedanken zur Heilig-Rock-Wallfahrt.

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