Die Halbinsel der Seligen

Wollte man die Geschichte von Asterix und Obelix und ihrem unbeugsamen Gallierdorf in Trier erzählen: Pfalzel wäre der ideale Schauplatz. Ein Ort der Stadtmauern und der Flussufer, selbstbewusst, eigenwillig, kernig. Und voll verborgener Schönheiten.

I.
Herrlich frisch weht der Wind von der Mosel her auf die Bastion. Kein Hauch von Emissionen aus dem benachbarten Industriegebiet. Der Fluss beschreibt eine 90-Grad-Schleife um den Ort, und nimmt man die Bahnlinie auf der westlichen Seite hinzu, drängt sich der Eindruck einer Halbinsel auf.
Das kleine rote Bastions-Gebäude oben auf der Wallmauer - so heißt die gut erhaltene mittelalterliche Stadtbefestigung - bietet einen kilometerlangen Blick entlang des Flusses. Nirgendwo in Trier gibt es ein vergleichbar schönes Moselvorland. Es wäre die blanke Idylle, dröhnte nicht unentwegt das Verkehrsgetöse von der Autobahn auf der gegenüberliegenden Seite. Am Fuß der Bastion wohnt Erwin Bach, der Hüter der Wallmauer. Pfeife schmauchend, Kreuzworträtsel lösend sitzt er mit nacktem Oberkörper auf seiner Veranda und blinzelt in die Sonne. Jeden Morgen um neun öffnet er das Tor zu der Anlage, tagsüber sieht er nach dem Rechten, jeden Abend schließt er ab. Ehrenamtlich. "Einer muss es ja machen", sagt er. Pfalzeler Pragmatismus.
II.
Selber machen ist angesagt in diesem Stadtteil. Auch nebenan am lauschigen Spielesplatz mit seinen Torbögen und den niedrigen Hauseingängen. Dort steigt am Wochenende erstmals ein Fest, organisiert von Anwohnern wie Thomas Müller. Der Unternehmer wohnt quasi direkt am Moselufer, von seinem Balkon aus könnte man mit etwas Mut auf die Flutmauer springen, die das Quartier seit einigen Jahren vor dem Hochwasser schützt.
Müller ist Pfalzeler mit Leib und Seele. Auf das, was er "gesunde dörfliche Strukturen" nennt, lässt er nichts kommen. Eine Handvoll Plakate für das Fest haben die Initiatoren im Stadtteil verteilt - Müller zweifelt keine Sekunde daran, dass sie Hunderte von Besuchern anlocken werden. Anderswo schleppen sich Feste müde dahin, in Pfalzel werden immer neue erfunden.
Man kennt sich, man streitet schon mal, aber man vertraut sich - bis hin zum Haustürschlüssel, den man selbstverständlich beim Nachbarn deponiert. "Hier würde jeder Schlüsseldienst pleitegehen", witzelt Thomas Müller.
III.
Das Gottvertrauen spiegelt sich auch ein paar Meter weiter in der Marienstiftskirche. Das mächtige Gebäude steht am späten Werktag-Vormittag einfach offen. Kein Mensch weit und breit. Hier würde eine Großstadtgemeinde spielend Platz finden, aber selbst in einem katholischen Dorf wie Pfalzel füllen die Gläubigen allenfalls noch an Weihnachten oder Ostern die Bänke. Ein einsamer Jesus thront über dem Altar, Heiligenfiguren flankieren die Sitzreihen respektgebietend. Man wünscht sich, es wäre jemand da, um die riesige Orgel in Betrieb zu setzen. Vergangenen Sonntag marschierte von hier aus der traditionelle Prozessionszug durch die Altstadt. Nicht Fronleichnam, sondern Peter und Paul zu Ehren. Die Pfalzeler haben sogar ihre eigenen Prozessionen.
IV.
Was sie auch haben, die Pfalzeler, ist eine gut gemischte Geschäftswelt. Metzger, Bäcker, Sparkasse, Arzt, Zahnarzt, Apotheke, Gastronomie vom Döner-Laden (mit Public Viewing) über die klassische Kneipe bis zum Ausflugsrestaurant. Kaum zu glauben, bei 3500 Einwohnern.
Aus einem Ladenlokal in der Residenzstraße klingt die typische Geräuschkulisse eines Frauen-Kaffeekränzchens - was Männer so "Gegickel" nennen. Aber hier wird kein Kaffee geschlürft, hier wird nach Klamotten gesucht. Sofern dieser legere Ausdruck erlaubt ist angesichts einer hübsch präsentierten, freundlich dargebotenen Boutique-Auswahl in der Mode-Ecke von Ruth Michels-Bechtler. Seit 28 Jahren betreibt sie ihren Laden - kaum zu glauben angesichts ihrer jugendlichen Ausstrahlung. Die Kundschaft kommt aus dem Umkreis von 50 Kilometern.
V.
Dass Fremde so weit vordringen in die Pfalzeler Altstadt, ist eher die Ausnahme. Die winzigen, verwinkelten Straßen im Zentrum sind nicht nur ein Alptraum für jeden Fahrschüler, sie schrecken auch jeglichen Durchgangsverkehr ab.
Letzterer endet spätestens am Pfalzeler Stern, dessen Straßen in feindliche Gefilde wie die Stadt Trier oder die Nachbarorte Ehrang und Biewer führen. An der Trennlinie zwischen Alt-Pfalzel und dem Rest der Welt findet sich Schrenks Lädchen - ein absolutes Unikum. Bierkneipe, Zeitungskiosk, Toto-Lotto-Filiale, Kartenvorverkaufsstelle, Open-Air-Terrasse, Kramladen: Der Familienbetrieb bietet alles. "Wir schaffen das nur, weil wirklich alle mitarbeiten", erzählt Inhaberin Tina Schrenk, ihr Mann Norbert serviert derweil ein Blutwurstbrötchen mit Senf. Und der bisherige Ortsvorsteher Werner Pfeiffer zischt einen gut gekühlten Viez mit Limo.

VI.

Zehn Jahre hat der hemdsärmelige Pfeiffer ("Ich sen de Werner, ganz einfach") die Geschicke von Pfalzel geleitet. Dazu gehört auch das propere Neubaugebiet auf der anderen Seite des Pfalzeler Sterns, das er stolz präsentiert. Schmucke, aber nicht protzige Häuser, relativ einheitliches Styling, gepflegte Anlagen. Er ist gerade dabei, Patenschaften für das öffentliche Grün zu vermitteln. So werden Neu-Bürger an das Pfalzeler "Wir helfen uns selbst"-Prinzip herangeführt.
Und doch wird sich der Ort ändern, werden sich Schwerpunkte verschieben, wenn beispielsweise der Netto-Markt am Stadtteilrand öffnet. Es wird nicht leicht sein, das Idyll zu verteidigen. Das sieht man schon an der Eltz-Straße, wo unasphaltierte Flächen das Bild der Neubauten stören. Es sind nicht die privaten Besitzer, an denen es hängt, sondern der städtische Haushalt. Seit Jahren wird die Maßnahme geschoben - was nicht zur Steigerung des Vertrauens in das Rathaus am fernen Augustinerhof beiträgt.
VII.
Ja, das mit den Städtern. Man kann nicht sagen, dass es ein Liebesverhältnis wäre. "Pfalzel liegt hinter dem Moselknick, da sieht man von Trier aus nicht so gut hin", sagt Thomas Müller. Was freilich umgekehrt genauso gilt.
Zuletzt prallten die Interessen aufeinander, als sich die Pfalzeler Grundschule auf der Streichliste wiederfand. Ausgerechnet das schön am Moselufer gelegene, fast herrschaftliche, um 1940 entstandene Gebäude mit den markanten Flügeln war im Schulentwicklungsplan nicht mehr vorgesehen. Da gingen die Pfalzeler aber so was von auf die Barrikaden, dass die Pläne rasch wieder verschwanden. Im nächsten Schuljahr, erzählt Rektorin Melanie Steil, sind wieder zwei Parallelklassen am Start - dank der Neubaugebiete. Von Schließung redet keiner mehr.
VIII.
Kind zu sein scheint in Pfalzel übrigens ein besonderes Vergnügen. Mitten im Zentrum ein Spielplatz mit 1000 Quadratmetern Auslauffläche, gesäumt von 20 schattenspendenden Bäumen, mit einer Tipptopp-Seilbahn: Wem wird so was schon geboten? Der Platz ist geradezu verdächtig sauber. Das liege daran, sagt Ortsvorsteher Pfeiffer, "dass die Erwachsenen, die ihre Kinder begleiten, sich dafür verantwortlich fühlen, wie es hier aussieht". Und wenn ein paar ältere Jugendliche über die Stränge schlagen, regelt das Stadtteil oberhaupt die Dinge auch schon mal persönlich.
IX.
Was der Ortsvorsteher nicht geregelt bekommt, dafür gibt es in Pfalzel auch noch IPP und BV. Für Ortsfremde: Initiative Pro Pfalzel und Bürgerverein Pfalzel. Gleich zwei Vereine, die (konkurrierend, wie mancher hinter vorgehaltener Hand sagt) das Wohl des Stadtteils zu ihrem Anliegen gemacht haben. Und dabei Enormes leisten, oft ohne großes Aufsehen. Zum Beispiel bei der Kriegsgräberstätte auf dem Friedhof. Wo andernorts verwitterte, modrige Steinkreuze mit unlesbar gewordener Schrift stehen, haben die Pfalzeler die Erinnerung an ihre Kriegstoten aufgefrischt - auch an die 125 Opfer des schrecklichen Bombenangriffs an Heiligabend 1944. Die alten Kreuze glänzen poliert in der Mittagssonne, ein neuer Gedenkstein ist hinzugekommen. Auch der Umgang mit der eigenen Vergangenheit ist ein Stück dörfliche Kultur.
X.
Apropos Kultur: Die findet in Pfalzel ein Stück Heimat im früheren kurtrierischen Amtshaus, das - direkt neben der Feuerwache gelegen -dem Ortsbeirat und diversen Vereinen als Gemeindehaus dient. An der Fassade ist die Farbe abgeplatzt, aber das werden die Pfalzeler wohl kaum lange auf sich beruhen lassen. Betrieb ist hier immer, und hier hat auch der Musikverein Pfalzel seine Heimstatt, wenn er seine Konzertreisen in ferne Gefilde vorbereitet. Oder wenn er, wie alle paar Jahre, dazu ansetzt, mit seinen "Hollywood"-Konzerten den Trierern in der großen Arena zu zeigen, was eine musikalische Harke ist. Und das ist ganz nach dem Geschmack der Pfalzeler.
Dieter Lintz

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