Erster Weltkrieg vor 100 Jahren

Berlin · Der vierjährige Waffengang des Ersten Weltkriegs führte das Töten im industriellen Maßstab ein. Nach 15 Millionen Opfern barg der schlecht geschlossene Friede den Keim für den folgenden, noch monströseren Zweiten Weltkrieg. Die Ereignisse 1914 bis 1918 - jetzt in unserem Special zum Nachlesen.

 Österreichische Truppen führen während des Ersten Weltkriegs einen Sturmangriff an der Isonzofront (Ostabschnitt der italienisch-österreichischen Front) durch. Wann genau das Foto entstand, ist nicht bekannt. Italien trat im Mai 1915 in den Krieg ein.

Österreichische Truppen führen während des Ersten Weltkriegs einen Sturmangriff an der Isonzofront (Ostabschnitt der italienisch-österreichischen Front) durch. Wann genau das Foto entstand, ist nicht bekannt. Italien trat im Mai 1915 in den Krieg ein.

Foto: dpa

Als der südslawische Nationalist Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 mit zwei Schüssen den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin ermordet, denkt noch niemand an den Krieg, der sich im kommenden Sommer zum 100. Mal jähren wird. In Wien unterbrechen die Walzerkapellen ihr Spiel, als die Meldung aus dem fernen Sarajevo verlesen wird - im Publikum löst dies kaum Erschütterung aus. Die Höfe, Staatskanzleien und Generalstäbe ganz Europas gehen wie gewohnt auf Urlaub, Kaiser Wilhelm II. unternimmt seine traditionelle Nordlandfahrt.

Europa hat zuvor schon mehrmals am Rande eines großen Kriegs gestanden - und ist dennoch stets vor dem Abgrund zurückgewichen. 1908 etwa, als sich Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina formell einverleibte, oder 1911, als Kaiser Wilhelm zum „Panthersprung“ nach Agadir ansetzte, einem Panzerboot-Aufmarsch vor der Küste Marokkos.

Doch die „Juli-Krise“ im Anschluss an das Attentat von Sarajevo entfaltet eine fatale Dynamik. Österreich lechzt nach Vergeltung. Serbien sei „niederzuwerfen“, fordert Kaiser Franz Joseph. Mit seiner irredentistischen Wühlarbeit habe das kleine Balkanland dem großen Nachbarn lange genug auf der Nase herumgetanzt. Doch Belgrad ist mit dem großen Russland verbündet. Die stetige Aufrüstung des Zarenreichs ist wiederum Kaiser Wilhelm unheimlich. Dem Bündnispartner an der Donau signalisiert er deshalb unbegrenzte Rückendeckung.

Die Doppelmonarchie stellt Serbien ein praktisch unerfüllbares Ultimatum und erklärt am 28. Juli den Krieg. Unerbittlich nimmt die Bündnis-Mechanik ihren Lauf. Am 30. Juli verfügt Zar Nikolaus II. die Generalmobilmachung. Am Tag darauf macht Österreich-Ungarn mobil. Am 1. August erklärt Deutschland Russland den Krieg und marschiert am nächsten Tag in Luxemburg ein - mit Stoßrichtung auf das neutrale Belgien und den „Erbfeind“ Frankreich. Am 4. August bricht England seine Beziehungen zu Deutschland ab. Die Mittelmächte - das deutsche und das österreichische Kaiserreich - standen nun gegen die Entente - Frankreich, England und Russland - in einem schwierigen Zwei-Fronten-Krieg.

Die deutsche Generalität braucht einen schnellen Sieg über Frankreich, um freie Hand für Russland zu haben. Das verbündete Österreich ist am serbischen Schauplatz stärker beansprucht als gedacht und folglich mit dem Zarenreich im Nordosten überfordert. Doch der deutsche Vormarsch in Frankreich kommt schon im September an der Marne zum Stillstand. Die Heere graben sich ein, ein jahrelanger Stellungskrieg beginnt.

Zwischendurch jagen die Generäle ihre Männer in verlustreiche Offensiven. Die Schlacht um Verdun dauert vom Februar bis zum Dezember 1916. Keine der Seiten erringt einen strategischen Vorteil. 162 000 französische und 100 000 deutsche Soldaten sterben auf dem Schlachtfeld; fast 500 000 werden verwundet. Die „Hölle von Verdun“ wird mit zum Symbol für die Schrecken des Ersten Weltkriegs. Mit ähnlichem Grauen erinnern sich Österreicher und Italiener an die zwölf unentschiedenen Schlachten am Isonzo (1915-1917).

Immer neue Länder zieht es in das gigantische Ringen hinein. 1915 schließt sich Bulgarien den Mittelmächten an und Italien der Entente. 1916 folgen Rumänien und 1917 die USA mit dem Kriegseintritt an der Seite der Entente. Der Kampf weitet sich zum totalen Krieg aus. Die Zivilbevölkerung wird für die Kriegswirtschaft mobilisiert - und hungert. Trotz Ansätzen zu Verhandlungen wird immer klarer, dass der Krieg nur mit dem Siegfrieden der einen, dem Zusammenbruch der anderen Seite enden wird. Als erste Großmacht scheidet Russland aus - die Revolutionen im Jahr 1917 führen zum Sonderfrieden mit Deutschland.

Doch die Mittelmächte sind stärker ausgeblutet, verfügen über weniger Reserven als die Entente. Als in der ersten Jahreshälfte 1918 die Offensiven der Deutschen in Frankreich und der Habsburger-Monarchie an der Piave scheitern, zeichnet sich das Ende ab. Am 11. November kapituliert Deutschland. Die Donaumonarchie zerfällt, ihre nicht-deutschen Teile machen sich selbstständig. Der eigentliche Friedensschluss erfolgt aber erst mit den Pariser Vorortverträgen 1919 und 1920.

Das bis dahin schlimmste Blutvergießen der Menschheitsgeschichte hat mindestens neun Millionen Soldaten und sechs Millionen Zivilisten das Leben gekostet. Das Töten auf dem Schlachtfeld nahm erstmals industrielle Ausmaße an. Neuerungen wie die Eisenbahn, das Maschinengewehr und schnell feuernde Artillerie beschleunigten und intensivierten die Kriegsführung in einer Weise, wie man sie bisher nie erfahren hatte. Auch Giftgas wurde erstmals eingesetzt. Generäle aller Seiten verharrten in der strategischen Mentalität des 19. Jahrhunderts und verheizten ihre Männer bedenkenlos im Inferno der modernen Waffentechnik. Unzählige Soldaten wurden durch die schrecklichen Kriegserlebnisse traumatisiert. Sie wurden zu „Kriegszitterern“, Neurotikern oder ganz irrsinnig.

Die Frage, wer die Verantwortung für die Entfesselung der Katastrophe trug, beschäftigt die Geschichtsforschung bis heute. In den 1960er-Jahren machte der deutsche Historiker Fritz Fischer Furore, der dem Deutschen Reich das Streben nach einem Weltmacht-Status attestierte, wofür es den Krieg bewusst in Kauf genommen habe. Der Oxford-Professor Christopher Clark nimmt in seinem jüngst erschienenen Buch „Die Schlafwandler“ eine markante Gegenposition ein. Für ihn schlitterten die Großmächte wegen ihrer aggressiven Geheimdiplomatie und ihres wechselseitigen Misstrauens eher unwillkürlich in die große Konfrontation, wobei er die größere Schuld Serbien, Russland und Frankreich zuweist. Die Debatten dürften jedenfalls gerade im Gedenkjahr 2014 lebhaft weitergehen.

Einig sind sich die Historiker weitgehend, dass die Friedensschlüsse von 1919/20 den Kontinent nicht dauerhaft zu befrieden vermochten. Die Sieger nahmen an den Verlierern Revanche, zwangen ihnen demütigende Bedingungen auf. In Deutschland begünstigte dies den Machtaufstieg eines von Komplexen und Hass erfüllten, aber mit Demagogie begabten Kunstmalers aus der österreichischen Kleinstadt Braunau. Die Folgen der Diktatur Adolf Hitlers sind bekannt. Der US-Diplomat und -Historiker George Kennan bezeichnete deshalb den Ersten Weltkrieg als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“.

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