Gastbeitrag: Der scheidende Kommissionschef Barroso schildert seine Visionen für die EU

Brüssel · José Manuel Durão Barrosoist seit Ende November 2004 Präsident der Europäischen Kommission. In unserem Gastbeitrag geht er auf die Rolle und Zukunft der Europäischen Union ein.

 José Manuel Barroso. Foto: dpa

José Manuel Barroso. Foto: dpa

Um Frieden und Wohlstand in Europa zu sichern, brauchen wir eine Europäische Union, die viel mehr bereit ist, zusammenzuarbeiten, ihre Macht international einzusetzen und ihre Rolle und ihren Einfluss zu stärken. Eine neue Weltordnung entsteht.

Entweder tragen wir dazu bei, diese neue Ordnung zu gestalten, oder wir verpassen die Zukunft. Europa wird entweder seinen Zusammenhalt weiter verstärken oder in der Bedeutungslosigkeit versinken.

Das muss organisch ablaufen, es darf keine abrupte Veränderung sein. Reform, nicht Revolution - diese Lehre ziehe ich aus meiner europäischen Erfahrung.

Für die nächste Phase der europäischen Integration brauchen wir politische und gesellschaftliche Unterstützung auf breiter Basis. Früher kam der Impuls für die europäische Integration stets sowohl von unten als auch von oben. Wir brauchen eine neue Debatte, um Europa weiter voranzubringen. Wir brauchen eine echte Identifizierung mit dem europäischen Projekt auf europäischer und auf nationaler Ebene.

Bevor wir die technischen Einzelheiten eines weiteren Vertragswerks diskutieren, müssen wir die folgende Frage beantworten: Was ist der von allen getragene Zweck unserer Union? Inwieweit verknüpfen wir unser Schicksal miteinander? Wie weit und wie tief soll die Integration gehen, wer will woran beteiligt sein und zu welchem Zweck?
Im Verlauf der Krise ist der politische Wille zum Handeln sichtbar geworden. Von neuen Regeln für die Wirtschafts- und Haushaltsaufsicht bis zur stärkeren Regulierung und Überwachung des Finanzsektors."Reform statt Revolution"

Der Trend ging stets zu mehr, nicht weniger Integration, und zu mehr, nicht weniger Befugnissen für Institutionen wie die Europäische Kommission oder die Europäische Zentralbank.

Anhaltende Reform setzt voraus, dass nationale Entscheidungsträger sich gleichzeitig auch als europäische Akteure sehen und die derzeitige Umsetzungslücke schließen. Anhaltende Reform bedeutet auch, dass das Europäische Parlament seine Rolle als Entscheider aktiv annehmen muss. Anhaltende Reform bedeutet auch, dass die Kommission unverzichtbar und die Stelle ist, an der die Fäden der europäischen Politik zusammenlaufen. Auch wenn das Ergebnis nicht immer unseren Vorstellungen entsprach, hat die Kommission während der Krise die entscheidenden Vorschläge auf den Tisch gelegt.

In Europa bedeutet Führung Konsensbildung und die Vermeidung einer Fragmentierung. In der EU wird es auch weiterhin eher "permanente Reform" als "permanente Revolution" geben. Damit diese permanente Reform gelingt, müssen wir zuerst die europäische Politik auf den richtigen Weg bringen. Keine Vertragsänderung, keine institutionellen Maßnahmen können den politischen Willen ersetzen, Europa voranzubringen. Die europäische Integration ist und bleibt das ambitionierteste Projekt der jüngsten Geschichte. Ihre Energie und Anziehungskraft sind außerordentlich, ihre Anpassungsfähigkeit beispiellos. Dies gilt aber nur, wenn nationale Politiker Europa nicht als eine äußere Einmischung behandeln, wenn die Kooperation einen neuen Reifegrad erreicht und wenn Europa politisch in die Offensive geht.

Genau darum geht es bei der bevorstehenden Europawahl . Sie ist ein entscheidender Moment, sich für die bisherigen Errungenschaften einzusetzen und einen Konsens darüber zu finden, was getan werden muss, für das wirkliche Europa einzutreten und eine Vision davon zu entwerfen, wie Europa sein könnte. José Manuel Durão BarrosoZur Person

Unser Gastautor, José Manuel Durão Barroso (58), Mitglied der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), ist seit Ende November 2004 Präsident der Europäischen Kommission. Am 16. September 2009 wurde er vom Europäischen Parlament für eine zweite Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Von 2002 bis 2004 war er Ministerpräsident Portugals. red

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