Juncker als Sieger noch lange nicht am Ziel - Schulz pokert um den EU-Chefposten

Brüssel · Jean-Claude Juncker oder Martin Schulz? Nach der Europawahl kämpfen sowohl die Sozialdemokraten als auch die Union um den Chefsessel in Brüssel. Wer letztendlich den Posten des Kommissionspräsidenten übernehmen wird, entscheidet am Ende jedoch Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Jean-Claude Juncker (59) war am Morgen nach der langen Wahlnacht in Bestform. Er sehe trotz der Strapazen überraschend fit aus, bemerkte ein britischer Journalist in Junckers Pressekonferenz. "Ich bin eben nicht der müde alte Mann, über den die Medien so gerne schreiben", konterte der Luxemburger. Damit ist für den ehemaligen Luxemburger Regierungschef klar: Er ist am Zug, sich im EU-Parlament die nötige absolute Mehrheit (376 Stimmen) für seine Wahl zum Kommissionspräsidenten zu suchen. "Ich erwarte ein entsprechendes Mandat", so Juncker.

Ganz so einfach dürfte die Sache aber nicht werden: schon in der Wahlnacht kündigte Martin Schulz an, das er sich keineswegs geschlagen geben, sondern seinerseits versuchen will, eine Mehrheit im Europaparlament für seine Inhalte zu zimmern.

Juncker zeigte sich ob des Powerplays gestern gelassen. Er gebe Schulz den freundschaftlichen Rat, "nicht auf einen Weg zu gehen, der zu keinem Ziel führt". Es gebe nämlich keine Mehrheit an den Christdemokraten vorbei - zumindest, wenn man sich nicht auf Radikale, Poplisten und EU-Hasser als Mehrheitsbeschaffer stützen will. Sprich: Juncker und Schulz sind zur Zusammenarbeit verdammt. Brüssel bekommt wohl eine große Koalition wie Berlin. "Ich hoffe nur, wir müssen keine Koalitionsverhandlungen mit 200 Leuten führen", scherzte ein Juncker-Mitarbeiter gestern.

Klar ist: Schulz wird sich eine Unterstützung für Juncker möglichst teuer abhandeln lassen. Fragt sich, was für ihn dabei herausspringen soll. Der gelernte Buchhändler könnte darauf pokern, dass Kanzlerin Angela Merkel ihn als deutschen Kommissar nach Brüssel schickt. Ambitionen werden dem ehemaligen Bürgermeister - der in seiner Heimat "Kissinger von Würselen" genannt wird - auf das Amt des Hohen Beauftragten für Außenpolitik nachgesagt. Der ist qua Amt gleichzeitig Kommissionsvizechef. Deutschland hätte so einen der Spitzenposten, die im Paket neu vergeben werden müssen.

Das wäre ein sehr honoriger "Trostpreis" für einen wackeren Wahlkampf des Sozialdemokraten. Auch eine Verlängerung in seinem jetzigen Amt als EU-Parlamentspräsident wird immer wieder als Plan B genannt. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel reist heute zum Treffen der sozialistischen EU-Regierungschefs nach Brüssel, um für Schulz zu trommeln. Das nationale Parteichefs daran teilnehmen, ist eher unüblich.

Am Abend kommen dann alle 28 Staats- und Regierungschefs der EU zusammen, um über das Wahlergebnis und die Folgen zu diskutieren. Der vom Erfolg der EU-Hasser demontierte britische Premier David Cameron hat schon angekündigt, Juncker als Kandidat für den Chefsessel der Kommission nicht zu unterstützen. Auch der Ungar Victor Orban will sich gegen Juncker stellen. Der Rat muss mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten benennen - nach Konsultation mit dem Europaparlament und unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses. So steht es in den Verträgen.

93 Stimmen im Rat würden reichen, um Juncker zu stoppen. Mit Orban käme Cameron aber nur auf 41 Stimmen. Weitere mögliche Verbündete könnten Skandinavier und Niederländer sein. Ihnen ist der Luxemburger zu integrationsfreundlich. Als mögliche Ausweichkandidaten werden der irische Premier Enda Kenny und IWF-Präsidentin Christine Lagarde genannt.

Am Ende kommt es wohl entscheidend auf die Bundeskanzlerin an. Kritiker sagen ihr eine eher halbherzige Unterstützung für Parteifreund Juncker nach. Außerdem hat sie sich zuletzt immer sehr bemüht, Rücksicht auf London zu nehmen - etwa beim Streit um den Haushalt.

Dennoch wäre es ein Zeichen der Schwäche, wenn sie ihren Kandidaten nach einem klaren Sieg nun nicht durchboxt. Jean-Claude Juncker zeigte sich jedenfalls nach einem Telefonat mit der CDU-Chefin gestern entspannt: "Ihre Position ist kristallklar. Ich weiß, was ich weiß", orakelte er in seiner Pressekonferenz. Klarer wollte der Polit-Fuchs nicht werden. "Ich bin schließlich nicht der Sprecher von Frau Merkel." Die Kanzlerin weiß aber, dass Juncker sich am Ende auch gut mit der Nachfolge von Herman van Rompuy als EU-Ratspräsident abfinden könnte. Das gibt ihr Manövriermasse. Denn auch dieser Posten gehört ins Paket.

Der Zeitplan für Europas neue Top-Riege ist jedenfalls ehrgeizig: Schon Mitte Juli soll der nächste Kommissionspräsident vom Europaparlament gewählt werden. Doch wohl erst Ende Juni ist klar, wie groß nun tatsächlich die Fraktionen sind. Denn neue Parteien wie die AfD müssen sich erst entscheiden, wo sie andocken. Das kann die Kräfteverhältnisse in der Volksvertretung nochmal verschieben.

Darauf hofft Martin Schulz. Doch Junckers Umfeld trat gestern Spekulationen entgegen, die Konservativen könnten durch Abgänge noch entscheidend geschwächt werden. Das Gegenteil sei der Fall. Frei nach dem Motto: "The winner takes it all." Mehr zum Thema

Kommentar unserer Brüsseler Korrespondentin

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