Kurt Beck, der erfahrene Landesvater

Wir schreiben das Jahr 1979. In der Welt regieren Präsidenten wie Jimmy Carter (USA) und Leonid Breschnew (UdSSR). Der Bundeskanzler heißt Helmut Schmidt. In Frankfurt werden die Grünen gegründet. Als am 3. Juni 1979 im Mainzer Landtag erstmals ein vollbärtiger Politiker eine freie Rede hält, ahnt niemand, dass dieser Mann jahrzehntelang die Landes- und Bundespolitik prägen wird.

Kurt Beck erinnert sich fast 32 Jahre später an diesen Tag sehr genau. "Mein Herz hat vor Aufregung geklopft." Ein Beispiel für sein fotografisches Gedächtnis, das Freunde wie Gegner immer wieder erstaunt.

Dem gelernten Elektromechaniker, der Rheinland-Pfalz seit gefühlten Ewigkeiten (genau seit 1994) regiert, wird nachgesagt, im Laufe der Zeit der Hälfte seiner vier Millionen Landsleute die Hände geschüttelt zu haben. Seine Begleiter bei einer Wahlveranstaltung in Kastellaun protestieren und behaupten, es wären viel mehr gewesen. Beck denkt dabei an etwas anderes. "Ich habe oft Schmerzen beim Händeschütteln, denn ich habe eine chronische Schleimbeutelentzündung in der Schulter." Zugezogen habe er sie sich beim Hausbau. Damals habe er mit seinem Vater Stahlträger geschleppt, weil ein Kran zu teuer gewesen sei.

Kleine Geschichten aus seiner Kindheit oder Jugend streut der Sozialdemokrat gerne ein, wenn er im Wahlkampf vor die Leute tritt. Mal erzählt er, wie sehr er als Bub das Heidelbeerpflücken auf Geheiß seiner Oma gehasst hat, mal lobt er eine Blaskapelle und lässt wissen, er sei auch 15 Jahre lang Klarinettist gewesen. Beck signalisiert damit, einer von ihnen, einer von vielen zu sein. Er ist "der Kurt" geblieben, obwohl er in seiner langen Karriere mit US-Präsidenten über Truppenstandorte in Rheinland-Pfalz verhandelt, mit dem Papst debattiert und schier unendlich viele Diplomaten und wichtige Politiker aus der ganzen Welt getroffen hat. Die Botschaft kommt an, das SPD-Motto "Kurt und gut" zieht. In proppenvollen Sälen applaudieren die Menschen ihm.

Der 62-jährige Pfälzer - Leibspeise Saumagen, "gerne auch Fisch oder allerlei Meeresgetier", - absolviert seinen vierten Landtagswahlkampf seit 1996. Unterschiede zwischen damals und heute sieht er nicht. Der Ablauf sei stets gleich. Und bei sich selbst? "Ich bin deutlich gelassener geworden." Beck führt das auf seinen Erfahrungsschatz zurück.

Wer dem Wahlkämpfer in Kulturzentren oder Stadthallen lauscht, erlebt einen souveränen Redner. Vom Stress des Tages ist ihm nichts anzumerken, obwohl er schon um 6 Uhr im Flieger nach Berlin gesessen, dort dann um den Glücksspielstaatsvertrag mitgerungen hat und direkt nach seiner Rückkehr vom Flughafen um 17 Uhr in den Saal gehetzt ist.

Eine halbe Stunde nach der zweiten Veranstaltung des Tages fragt Kurt Beck gegen 23 Uhr im kleinen Kreis höflich, ob er sich des Jacketts entledigen dürfe, weil ihm warm sei, und gönnt sich ein Bier. Bitburger Stubbi-Flasche, "da brauche ich kein Glas". Ein Journalist aus Berlin stellt ihm die Frage, die er so oft hört: ob ihm noch seine Zeit als SPD-Bundesvorsitzender und sein Abgang nachhingen. Antwort: "Ach, wissen Sie, Sie meinen immer, die Hauptstadt sei der Nabel der Welt. Politik wird in vielen Bundesländern und Kommunen gemacht, sie wirkt von unten nach oben." Später wird der Journalist folgern, Beck sei noch immer stark betroffen von den damaligen Vorgängen.

Die Berliner Bühne beschäftigt den Fußballfan, der kein Heimspiel des geliebten 1. FC Kaiserslautern auslässt und Mitglied des FSV Mainz 05 ist, in der Tat permanent. Oft reist er an die Spree, koordiniert im Bundesrat, bringt wie bei den Hartz-IV-Verhandlungen stillstehende Züge gemeinsam mit Amtskollegen anderer Couleur ans Ziel.

Seine Wahlkampfrede, die er je nach Ort des Auftritts mit regionalen Inhalten abwandelt, umfasst stets bundespolitische Aspekte. Beck lästert über die "Gipfelei" in Berlin, etwa den aus seiner Sicht ergebnislosen Benzingipfel. Er wettert über das neuerliche Spekulantentum an den Finanzmärkten. Affären seiner Regierung nennt er dagegen "Fehler" und wischt sie in drei Sätzen wie lästige Fliegen beiseite.

Seine Botschaft ist diese: Eine starke Wirtschaft mit vielen Arbeitsplätzen muss einhergehen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft. "Ausgebeutete und ausgequetschte" Arbeitnehmer, die für Niedriglöhne schuften, sind ihm ein Gräuel. "Schäbig" nennt Beck das und fordert vehement Mindestlöhne.
Wer sein politisches Grundgerüst durchsetzen will, und Kurt Beck kämpft vehement darum, kann dies in seinen Augen nur mit einem pragmatischen Vorgehen erreichen. Gerade hat er ein Buch veröffentlicht, "Politik geerdet". Darin steht: "Ich bin ein bekennender Pragmatiker."
In seiner rheinland-pfälzischen Heimat verfolgt er diesen Ansatz seit Jahren erfolgreich. "Wir", sagt er in seiner Wahlkampfrede in jedem zweiten Satz, und "gemeinsam". Beck führt ovale Tische für Ausbildung und Wirtschaft mit den Kammern, Gewerkschaften und Unternehmen als Beispiele an. Ergebnis: Die Wirtschaft in Rheinland-Pfalz wachse erheblich stärker als im Bundesdurchschnitt, bei der niedrigen Arbeitslosenquote sei das Land an dritter Stelle.

Als größte Herausforderung der Zukunft betrachtet der Regierungschef den demografischen Wandel mit einer schrumpfenden und älter werdenden Bevölkerung. Und wieder lautet sein Zauberwort "gemeinsam". Jüngere müssten für Ältere einstehen und umgekehrt.

Kurt Beck gilt in der Landes-SPD als unumstrittene Führungsfigur. Und doch wird anscheinend nicht immer nur das gemacht, was er sagt. Minister wie Abgeordnete loben die intensiven, offenen Diskussionen. Mitarbeiter erzählen, Beck höre stets aufmerksam zu und greife Vorschläge auf. Die Personenschützer, die ihn auf Schritt und Tritt begleiten, berichten von einem unkomplizierten Verhalten.

Nur eines kann der Mann offenbar überhaupt nicht leiden: unvollständige Unterlagen oder unvorbereitete Gesprächspartner. "Dann reagiert er schon mal unwirsch", erzählt eine SPD-Mitarbeiterin. Ein langjähriger Regierungspartner der Liberalen sagt bewundernd: "Kurt Beck ist ein Aktenfresser. Er kennt jedes noch so kleine Detail."

Vermutlich ist es auch dieses Fachwissen, das Menschen im Land in Gesprächen, denen er sich jederzeit gerne stellt, so beeindruckt, dass sie ihn bislang stets gewählt haben. Er ist Kurt Beck, der Landesvater. Er hört zu. Er sucht nach Lösungen. "Gemeinsam" mit ihnen, natürlich.

Jimmy Carter und Leonid Breschnew, 1979 zu Beginn seiner Laufbahn große Politiker, sind längst Geschichte. Kurt Beck ist es nicht. Und das soll nach seiner Ansicht auch so bleiben. "Wenn alle anderen bis 67 arbeiten, warum dann nicht ich?"

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