Lemmy tritt uns in den ...

Von nächtlichen Körperertüchtigungen und einem Herzenswunsch. Wird Rock am Ring 2008 gut, grottig oder irgendwas dazwischen?

(jp) Keiner von uns wird wohl nach drei Tagen zwischen Bühne und Zeltplatz (mein Kollege Jimmy Feichtner hat wenigstens noch ein Zimmer in einer Müllenbacher Pension ergattert, während ich mich nächtens in den Opel Astra Kombi eines Kumpels zwängen muss) in der Lage sein, eine Bilanz mit Objektivitäts-Garantie abzuliefern.
Also mache ich es mir einfacher. Der erste Eindruck entscheidet. Am ersten Abend werden die Würfel fallen. Auf den Freitag kommt es an. Und natürlich auf die Bühne, die ich mir ausgesucht habe. Rage und die Center Stage streife ich zwar auch, aber Priorität hat ein potthässlicher englischer Proll mit zwei dicken Warzen im Gesicht und einer Stimme, die klingt wie ein besoffener Bullterrier. "We are Motörhead, and we play Rock'n'Roll", gröhlt Lemmy Kilmister auf der Alterna-Stage ins wie immer leicht schräg über ihm hängende Mikro. Wie jetzt? Rock'n'Roll? Normalerweise begrüßt er sein Publikum mit "We're gonna kick your ass" - Wir werden euch ins Gesäß treten. Wird Lemmy friedlich auf seine alten Tage? Der Typ wird an Heiligabend 63. Die Hardcore-Metaller um mich herum teilen weder meine tiefen Gedanken noch meine dicht an der Grenze zum Entsetzen liegende Befürchtung, dass Motörhead nach 30 Jahren Dampfhammer-Gröhl-Erdbeben-Rock ihre zivile Seite entdecken könnten. Lemmy beginnt mit "Dr. Rock", und das Volk vor der Alterna-Stage wird zur wogenden Masse. Ein konservativ geprägter Außenstehender könnte das, was wir hier machen, für eine Massenschlägerei halten, denke ich mir. Was soll's. Die Energie muss raus.

Lemmy und seine zwei Jungs liefern eine Show, in der keiner (außer mir, und ich fange an mich zu schämen) über Lemmys Alter oder den neuen zivilen Stil des Briten-Trios nachdenkt. Statt hier groß zu philosophieren, feiern die Jungs und Mädels den Warzenträger. Genug gegrübelt, ich mache mit. Motörhead bringen am Freitagabend das, was ich von ihnen hören will. Das vom Veranstalter streng verbotene "Crowd Surfing" - wir heben immer mal wieder irgendeinen Metaller hoch und reichen ihn quasi durch die Reihen bis in die Arme der schwer genervten Security - macht die Motörhead-Show zum Kraftakt. Macht auch nichts. Als Lemmy schließlch "Ace of Spades" und dann am Schluss "Overkill" spielt, weiß ich: Rock am Ring 2008 wird nicht gut und schon gar nicht grottig. Es wird genial.

Das ist es jetzt schon - unter anderem, weil es mir einen wirklich tief drinnen schlummernden Wunsch erfüllt hat. Bevor Motörhead um Mitternacht das Feuer eröffnete, hatten Cavalera Conspiracy auf der Alterna-Stage gespielt. Da könnten einem wirklich die Tränen kommen: In desem Quartett spielen die Sepultura-Gründer Max und Igor zusammen. Zwölf Jahre lang hatten die Brüder kein Wort miteinander gesprochen. Daran war Sepultura, die ultimative Death-Metal-Band, zerbrochen. Und seitdem beten Metaller in aller Welt um eine Wiedervereinigung. Wir wurden erhört. "Ultra Violent", was für ein wunderschön poetischer Titel, klingt wie Sepultura, fühlt sich an wie Sepultura, ist Sepultura. Auch wenn was anderes draufsteht.

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