Preußens "Revolution" von oben

Trier · Unter Napoleons Ansturm wurden die wirtschaftlichen und militärischen Schwächen Preußens deutlich. Auch in Berlin fürchtete man eine Revolution. Die Folge: Der Staat reformierte sich - als "Revolution im guten Sinne".

Napoleon als Wegbereiter des deutschen Nationalstaats? Bei dieser Vorstellung hätte man in Paris an der Schwelle zum 19. Jahrhundert wohl herzlich gelacht: Jenseits des Rheins gab es zwar eine Art von Staat - das Heilige Römische Reich Deutscher Nation - aber kaum Nationalgefühl. Wie anders sah es da in Frankreich aus: Hier hatte die Revolution eine gemeinsame Identität geschaffen, die in Europa einzigartig war. Das Heilige Römische Reich dagegen war ein Sammelsurium von 250 unabhängigen Fürstentümern, deren Herrscher machten, was sie wollten. Nur zwei Mächte überragten die anderen: das Haus Habsburg, das mit Franz II. auch den Kaiser stellte, und das gleich neben dem Reich liegende protestantische Preußen.
Kulturgeschichte der Menschheit


Preußen: 1701 zum Königreich erhoben, 1947 als Staat durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs per Gesetz von der Landkarte gestrichen. Preußen ist Vergangenheit. Geblieben ist der Mythos - eines Königreichs, das die Hohenzollern mittels "deutscher Tugenden" vom unbedeutenden Herzogtum zur europäischen Großmacht entwickelten.

Aufgeklärter Absolutismus:
Die erste Phase dieses Aufstiegs vollzog sich im Laufe des 18. Jahrhunderts und ist vor allem mit der legendären Gestalt von Friedrich II. (1712-1786), dem Großen, verknüpft. Der "Alte Fritz" gilt als prominentester Vertreter eines "aufgeklärten Absolutismus". Während die französischen Könige bis zur Revolution 1789 noch nach der Devise "der Staat bin ich!" von Sonnenkönig Ludwig XIV. regierten, bezeichnete sich Friedrich II. als "ersten Diener des Staates".

Mann der Gegensätze:
Friedrich disputierte mit Voltaire über die Grundsätze einer neuen Zeit. Er schaffte die Folter ab, trat für religiöse Toleranz ein, ließ Hunderte von Volksschulen einrichten. Das hinderte den kunstsinnigen König allerdings nicht daran, drei große Kriege vom Zaun zu brechen und eine rücksichtslose militärische Expansionspolitik für Preußen zu verfolgen.

Preußens Niederlage:
Drei Jahre nach Friedrichs Tod versetzte die Französische Revolution die absolutistischen Herrscher Europas in Angst und Schrecken. Noch einmal 16 Jahre später (1806) wurde das preußische Heer von der französischen "Nationalarmee" unter dem Kommando Napoleons bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen.

Code Napoléon:
Der Erste Konsul der Franzosen - und ab 1804 selbst ernannte Kaiser - hatte das von Unruhen zerrissene Frankreich geeint, mit dem Code Napoléon ein neuzeitliches Gesetzbuch geschaffen, das sich an den Forderungen der Revolution orientierte (unter anderem Gleichheit vor dem Gesetz, persönliche Freiheit, Schutz des Privateigentums). Im Übrigen war er entschlossen, eine Weltmacht aufzubauen.

Militärisches Genie:
Nach ersten Siegen hatten sich die großteils aus Wehrpflichtigen bestehenden französischen Truppen unter anderem im westlichen Deutschland festgesetzt. Preußen musste einen dauerhaften Machtverlust befürchten. König Friedrich Wilhelm III. setzte Napoleon ein Ultimatum: Er solle seine Soldaten über den Rhein zurückziehen. Das Ultimatum richtete sich an einen Feldherrn, der eben bei Austerlitz die Armeen der Großmächte Österreich und Russland in die Knie gezwungen hatte. Napoleon war das militärische Genie der Stunde und dachte nicht daran, sich Preußen zu beugen. Es folgte die Kriegserklärung und alsbald die vernichtende Niederlage der Preußen bei Jena und Auerstedt. Friedrich Wilhelm III. blieb nur die Flucht nach Ostpreußen. Napoleon aber annektierte alle preußischen Territorien westlich der Elbe.

Schmerzhafte Niederlage:
Diese Niederlage war für Preußen ein Schock. Der Friedensschluss von Tilsit traf das Land hart - allein die Zahlungsverpflichtungen von 400 Millionen Talern überstiegen bei weitem das Leistungsvermögen des Landes. Dem König und seiner Frau Luise wurde jede Rückkehr nach Berlin verwehrt. Die verbliebene Hälfte des Königreichs musste Friedrich Wilhelm von Königsberg aus regieren.

Verknöcherte Strukturen:
Einer der Ersten, der sich von dem Schock der Eroberung erholte, war Preußens Innenminister, der Reichsfreiherr vom und zum Stein. Er hatte schon zuvor erkannt, dass die verknöcherten Strukturen von Staat, Wirtschaft und Militär in Preußen wie auch in den übrigen deutschen Landen keine Zukunft haben würden. Geschweige denn die Basis abgäben, einen Napoleon zu schlagen. Vom Stein sah im Mangel an bürgerlichem Bewusstsein und an politischen Rechten der Untertanen eine Schwäche. Weshalb er auf grundlegende Reformen des preußischen Staates hinarbeitete.

Grundlegende Reformen:
Ziel aller Reformen Preußens in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts war die Synthese von Tradition und Moderne. Freiherr vom Stein trieb die Säkularisierung des Landes und die Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft voran. Er führte eine neue Städteordnung ein: quasi eine Art kommunaler Selbstverwaltung wie wir sie bis heute kennen. Die Verwaltung des Landes wurde gründlich umgeformt: An die Stelle der Provinzialverwaltung traten Fachministerien. Zahlreiche überkommene Hemmnisse für Handel und Gewerbe wurden beseitigt sowie die Juden den übrigen Bürgern formal gleichgestellt. Ab November 1808 führte sein Nachfolger Karl August von Hardenberg die Reformen fort.

Allgemeine Wehrpflicht:
Auch der preußischen Armee wurde eine Reform verordnet. Die Generäle Gerhard von Scharnhorst und August Neidhard von Gneisenau verwandelten mit Unterstützung von Carl von Clausewitz und Hermann von Boyen das preußische Söldnerheer in eine Bürgerarmee nach französischem Vorbild. Dazu wurde 1814 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt - der Militärdienst wurde zur patriotischen Pflicht des preußischen Mannes. Das Adelsmonopol auf Offizierstellen verschwand - Offiziere sollten künftig nach Leistung, nicht nach Herkunft befördert werden. Die Prügelstrafe hatte als soldatische Disziplinarstrafe ausgedient.

Wandel ohne Blutvergießen:
Die gesamte preußische Reformbewegung war eine Reform von oben. Ins Werk gesetzt, um eine Revolution von unten zu vermeiden. Es war ein neuer Geist, der durch den militärisch-strengen Staat blies. Das alles führte zur Modernisierung Preußens und zu seinem Wiederaufstieg, auch zur Erneuerung seiner militärischen Schlagkraft. Was in Frankreich durch eine blutige Revolution in Gang gesetzt worden war, davon übernahm man in Berlin-Brandenburg unblutig, was an Neuem zur Stärkung preußischer Großmacht nützlich sein konnte.

Völkerschlacht von Leipzig:
Während Preußen wieder auferstand, begann für Napoleon der Abstieg. Mit dem Angriff gegen Zar Alexander übernahm sich der französische Feldherr militärisch, in der Völkerschlacht von Leipzig 1813 wurde das Schicksal Napoleons besiegelt. Ein Bündnis unter anderem aus Preußen, Österreich und ehemaligen Rheinbundstaaten zwang den Kaiser zur Abdankung und schickte ihn in die Verbannung.

Aufschwung für Nationalstaat:
In Deutschland aber erlebte nicht zuletzt dank der französischen Einflüsse die junge Idee des Nationalstaates einen ungemeinen Aufschwung. Die Französische Revolution hatte gezeigt: Eine Gesellschaft, die ihre Kraft aus der Idee einer gemeinsamen Nation bezieht, besitzt Durchschlagskraft, sie kann sich erneuern und modernisieren. Doch der Nationalstaat setzte die politische Beteiligung des Volkes sowie eine kulturelle und sprachliche Identität voraus. Andernorts wuchs nun der Nationalgedanke zur Vorstellung eines Europas freier, republikanisch organisierter Nationen heran. Das neue Preußen indes war weithin geprägt von einem gesellschaftlichen Militarismus - der zu einem Kennzeichen der preußischen und auch der späteren deutschen Geschichte werden sollte.
In der nächsten Folge:
Romantik und Nationalstaat
Weitere Beiträge der Serie auf www.volksfreund.de/geschichte
Extra

Im Juli 1807 kommt es in Tilsit zu einer legendären Begegnung: Die preußische Königin Luise bittet um ein Gespräch mit Napoleon Bonaparte (Foto: dpa). Neun Monate sind seit der Niederlage von Jena und Auerstedt vergangen, der König ist seither auf der Flucht. Nun bittet Luise um Gnade bei den Friedensverhandlungen. Auf Napoleons Frage, wie die Preußen so unvorsichtig sein konnten, ihn anzugreifen, gibt sie zur Antwort: "Der Ruhm Friedrichs des Großen hat uns über unsere Mittel getäuscht." Das berühmte Gespräch, bei dem die 30-jährige Königin all ihre Schönheit in die Waagschale wirft, bleibt jedoch ohne Erfolg: Preußen verliert die Hälfte seines Territoriums, bleibt aber als Staat erhalten. Napoleons Ende war der Beginn einer neuen Ordnung in Europa. Beim Wiener Kongress 1814/1815 einigten sich - zwischen allerlei kurzweiligen Lustbarkeiten - Monarchen und Minister aus ganz Europa auf neue Grenzlinien. Der sogenannten "Heiligen Allianz" lag nicht zuletzt daran, die von der Französischen Revolution erschütterte alte Herrschaftsordnung wieder in den Sattel zu heben. Es begann die Zeit der Restauration und Reaktion. Doch die von oben verordnete Ruhe war nicht zu halten. Der Kampf um bürgerliche Freiheiten und Demokratie sollte zu einer zentralen Triebkraft des 19. Jahrhunderts werden. Der Text dieser Seite entstand auf Basis eines Vortrages, den Barbara Abigt im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck in der Zeitung haben Andrea Mertes und Andreas Pecht übernommen. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e. V. Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e. V., Telefon: 02661/6702, Info: www.marienberger-akademie.de Die TV-Serie "Kulturgeschichte der Menschheit" ist eine Kooperation der Marienberger Seminare mit mehreren Regionalzeitungen. Sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.

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