Folge 36: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Trier · Im 18./19. Jahrhundert begann die Industrialisierung. Mit ihr entstanden neue, scharfe Sozialkonflikte, in denen sozialistische Gedanken bald eine große Rolle spielten. Einer der wichtigsten Vordenker war der in Trier geborene Karl Marx.

 Mitte des 19. Jahrhunderts emigrierte Karl Marx nach London. Dort entstand 1875, acht Jahre vor seinem Tod, auch diese Aufnahme. Marx wurde auf dem Highgate Cemetery begraben – in Anwesenheit von elf Trauergästen. TV-Foto: Archiv

Mitte des 19. Jahrhunderts emigrierte Karl Marx nach London. Dort entstand 1875, acht Jahre vor seinem Tod, auch diese Aufnahme. Marx wurde auf dem Highgate Cemetery begraben – in Anwesenheit von elf Trauergästen. TV-Foto: Archiv

Der Aufbau industrieller Großproduktion verlangte die Konzentration bedeutender Finanzmittel und eine gewaltige Zahl verfügbarer, billiger Arbeitskräfte. Heerscharen mittelloser Menschen wanderten ab Mitte des 18. Jahrhunderts in die Städte. Dort versprachen ihnen die neuen Fabriken einen Broterwerb, den sie auf dem Land nicht mehr fanden. Die damals vorherrschende Ideologie des Liberalismus mit ihrer einseitigen Betonung von bürgerlicher Freiheit und Eigentum kannte keine Fürsorge für die Schwachen.
Kulturgeschichte der Menschheit


Hungerlöhne zwangen die Arbeiter zu langen, verzehrenden Arbeitszeiten. Sonntags-, Frauen- und Kinderarbeit waren die Regel. Solche Missstände führten rasch zu sozialen Spannungen, auch zur Herausbildung von Arbeiterorganisationen. Und sie lieferten Impulse für sozialreformerische wie frühsozialistische Denkansätze. Eine der wichtigsten und in der historischen Folge wirkmächtigsten Theorien kam von Karl Marx.

Das Ende des Marxismus?
Als 1989 das Sowjetreich zerbrach, dachte man, damit sei auch das Gespenst des Marxismus endgültig vertrieben. Doch wurde mit dem Scheitern des Sowjetsystems tatsächlich Marx ad absurdum geführt? Oder landete auf dem Kehrichthaufen der Geschichte nicht vielmehr eine abstoßend autoritäre Staatsform, die sich womöglich zu Unrecht auf den 1818 in Trier geborenen Philosophen, Ökonomen und Journalisten beruft?

Die Wirtschaft verstehen:
Wegen regierungskritischer Artikel aus Deutschland ausgewiesen, saß der 27-jährige Journalist Karl Marx 1845 in Brüssel fest. Dort schrieb er in sein Notizbuch den Satz: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern." Diese Aussage fasst das Ziel des Marx\'schen Denkens und Strebens zusammen. Doch um verändern zu können, muss man verstehen, womit man es zu tun hat. Weshalb die systematische Analyse der kapitalistischen Wirtschaftsweise ebenso zu einem zentralen Gegenstand seines Schaffens wurde wie die Durchleuchtung der Gesetzmäßigkeiten, denen die Geschichte gehorcht.

Fortschritt und Elend zugleich:
Dabei gelangte Marx zum Bild einer Welt, in der der kapitalistische Markt in jede Pore der Gesellschaft eindringt und den ökonomischen Wert von allem und jedem zum einzig gültigen Maßstab macht. Er sprach von der expandierenden Maschinenwelt, der eigentlich die Kraft innewohne, die menschliche Arbeit zu erleichtern und zu verkürzen. In ihrer kapitalistischen Anwendung aber führe die Maschinerie einerseits zwar zu gewaltigen Fortschritten gegenüber allen bisherigen Gesellschaften. Andererseits aber habe sie systembedingt Elend, Überarbeitung, Ausbeutung, Entfremdung zur Folge aufseiten des besitzlosen, lohnabhängigen Proletariats.

Opium fürs Volk:
Das Marx\'sche Denken nahm seinen Ausgangspunkt bei der Religionskritik des Ludwig Feuerbach (1804-1872). Laut Feuerbach hatten die Menschen Gott nach ihrem eigenen Bilde geschaffen und verehrten nun ihre ideellen, edleren Kräfte in einem fremden Wesen. Warum? Nach Marx deshalb, weil ihr diesseitiges eigenes Leben so armselig verlaufe. Das ist der Kontext für seine berühmte Bemerkung, Religion sei das Opium des Volkes. Einfach nur dieses Opium zu entfernen, würde den Menschen daher nicht helfen. Vielmehr müssten die üblen Bedingungen beseitigt werden, die dieses Opium nötig machen.

Basis und Überbau:
Marx war der Ansicht, dass vor allem die materiellen Verhältnisse das Bewusstsein der Menschen bestimmen. Die wirtschaftlichen Kräfte in einer Gesellschaft seien es primär, die Veränderungen in allen Bereichen herbeiführen und so die Geschichte antreiben. Die materiellen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse bezeichnete er als die Basis der Gesellschaft; ihre politischen Institutionen und Gesetze, ihre Religion, Moral, Kunst, Philosophie und Wissenschaft nannte er Überbau.

Klassenkämpfe:
Alle Geschichte war für Marx eine Geschichte von Klassenkämpfen, das heißt von Auseinandersetzungen darüber, wem die Produktionsmittel gehören sollen, zu wessen Nutzen sie wie verwendet werden. Und weil die jeweilige Oberklasse ihre Vorherrschaft niemals freiwillig aufgebe, könne nur durch eine Revolution grundlegende Veränderung herbeigeführt werden.

Arbeiten für einen anderen:
Im Prinzip gilt bei Marx Arbeit als etwas Positives, weil die Möglichkeiten für Erkenntnis und Schöpferkraft des Menschen eng mit dessen Arbeit zusammenhängen. Doch im kapitalistischen System arbeitet der Arbeiter für einen anderen: Der einzig aus menschlicher Arbeit entstehende Mehrwert geht zum größten Teil an die Kapitaleigentümer. Hinzu kommt: Durch die Zerstückelung der Tätigkeiten im industriellen Produktionsprozess wird der Proletarier, anders als der traditionelle Handwerker, zum bloßen Anhängsel der Maschinerie. Er wird seiner Arbeit entfremdet - und damit auch sich selbst.

Selbstzerstörerisches System:
Aus seiner Analyse der ökonomischen Funktionsmechanismen folgerte Marx, dass der Kapitalismus letztlich ein sich selbst zerstörendes Wirtschaftssystem ist. Dessen Fixierung auf unendliches Wachstum und das freie Spiel der Marktkräfte schließt eine vernünftige Steuerung aus, führt zwangsläufig zu regelmäßig wiederkehrenden (Überproduktions-)Krisen und sinkender Profitrate. Denn die eigentliche Quelle des Profits ist die Arbeiterschaft, und deren Ausbeutung lässt sich nicht beliebig steigern, findet ihre Grenzen in der menschlichen Belastbarkeit.

Teufelskreis:
Mit der Zeit konzentrieren sich die Produktionsmittel in immer weniger Händen. Die Konkurrenz der dann übrig gebliebenen Großkonzerne auf einem nicht mehr ausdehnungsfähigen Markt hat ständig wachsenden Druck zu Rationalisierung, Senkung von Produktionskosten und Löhnen zur Folge. So werden einerseits immer weniger Arbeitskräfte gebraucht, andererseits verarmen die Arbeiter und können sich nichts mehr kaufen. Wodurch die Nachfrage nach industriellen Produkten sinkt und sich der Verdrängungswettbewerb auf den Märkten weiter verschärft. Marx sah hier einen Teufelskreis, der schließlich das Sterben des Kapitalismus und womöglich einen Rückfall in die Barbarei einläutet - sofern dem nicht eine grundlegende, revolutionäre Veränderung des Systems zuvorkommt.

Details unterschätzt:
Viele Voraussagen von Karl Marx sind im Detail nicht eingetroffen. Teils hat er das Beharrungs- und Durchsetzungsvermögen der von ihm selbst herausgearbeiteten Mechanismen unterschätzt: Etwa die Entfaltung der Produktivkräfte durch immer neue Innovationen, die Weiterung der Absatzmärkte durch künstlich erzeugte Bedürfnisse oder die Ausdehnung der menschlichen Belastbarkeit durch neue Arbeitstechniken. Unterschätzt hat er wohl auch, welche Steigerungen der allgemeinen Lebensqualität die "Klassenkämpfe" in Form gewerkschaftlichen Engagements und als politische Sozialreform dem Kapitalismus über recht lange Zeitphasen abtrotzen können - ohne gleich das ganze System in frage zu stellen.

Jeder nach seinen Fähigkeiten:
Indes verstärkt sich gerade angesichts der jüngsten Phase des Kapitalismus der Eindruck, dass Marx in etlichen Grundzügen seiner Analyse womöglich doch richtig lag. Was nun die Alternativen zum Kapitalismus angeht, so werden ihm lauter Erscheinungen des 20. Jahrhunderts angelastet, für die er nichts kann: Stalinismus, Maoismus, UdSSR, DDR ... Marx selbst blieb bis zu seinem Tode 1883 in London bei der Skizzierung eines Gesellschaftsmodells für die Zeit nach einer antikapitalistischen Revolution recht vage. Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln hielt er wohl für ebenso notwendig wie bestimmenden Einfluss der arbeitenden Bevölkerung auf die Entwicklung von Wirtschaft und Staat - hin zu einer künftigen Gesellschaft unter der Maxime: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen."
Nächste Folge: Max Weber,
der erste deutsche Soziologe
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Extra

An Mosel und Rhein In Trier geboren und aufgewachsen, als Student in Bonn wegen "Tragens eines Säbels" verurteilt, verlobte sich Karl Marx 1836 in Bad Kreuznach mit Jenny von Westphalen. 1842 übernahm er in Köln die Leitung der liberalen Rheinischen Zeitung. Das Blatt musste 1843 sein Erscheinen einstellen, weil Marx wiederholt die Zensurbestimmungen unterlief. Im gleichen Jahr lernte er in Paris Heinrich Heine kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Während der Revolution 1848/49 engagierte sich Marx in der preußischen Rheinprovinz, gab in Köln die radikale Neue Rheinische Zeitung heraus, die im Mai 1849 verboten wurde. Bald darauf ging Marx von Paris aus nach London ins Exil.Unglückliche Jenny


Sie war Ballkönigin von Trier, eine ebenso lebensfrohe wie blitzgescheite und hochgebildete Frau: Jenny von Westphalen (Foto: Deutsches Historisches Museum Berlin) - 1814 geboren, ab 1836 sieben Jahre mit Karl Marx verlobt, dann fast vier Jahrzehnte bis zu ihrem Krebstod 1881 mit ihm verheiratet. Sie gebar sieben Kinder, von denen nur drei überlebten. Jenny hielt oft unter schwierigsten finanziellen Bedingungen den Haushalt zusammen, bearbeitete zugleich die Manuskripte ihres Mannes für den Druck. Sie war ihm eine aufopferungsvolle Gefährtin und stand bei Marx\\' Freunden wie Friedrich Engels, Wilhelm Liebknecht oder Heinrich Heine in höchstem Ansehen. Doch glücklich war sie nicht. Der Text dieser Seite entstand auf Basis eines Vortrages, den Walter Zitterbarth im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck in der Zeitung haben Andrea Mertes und Andreas Pecht übernommen. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V., Telefon 02661/6702, Info: www.marienberger-akademie.de Die TV-Serie "Kulturgeschichte der Menschheit" ist eine Kooperation der Marienberger Seminare mit mehreren Regionalzeitungen. Sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. red

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