Es wird genauer hingeschaut

Kevin, Jessica, Leon, Jacqueline, Lea-Sophie: Wenn der qualvolle Tod dieser und etlicher anderer Kinder nicht völlig umsonst war, dann deshalb, weil er die Öffentlichkeit wachgerüttelt hat.

Misshandelte, missbrauchte, vernachlässigte Kinder: Das passiert nicht irgendwo in der Ferne, sondern mitten in unserer Zivilgesellschaft. Und sehr oft verläuft das Martyrium der Kinder nicht unmerklich und im Verborgenen, sondern es hinterlässt Spuren. Spuren, die in der Vergangenheit zu oft ignoriert wurden.

Auch wenn es zynisch klingt: Insofern ist der massive Anstieg gemeldeter Fälle in Rheinland-Pfalz und der Region kein schlechtes Zeichen. Vieles spricht dafür, dass nicht die Zahl der Misshandlungen und Missbräuche steigt, sondern dass Nachbarn, Ärzte, Lehrer, Erzieherinnen oder Ämter genauer hinschauen und früher aktiv werden. Gerade angesichts der oft schwierigen Abwägung, ob man Behörden einschaltet oder nicht, hat sich die klare Ansage des Landesgesetzgebers an die Verantwortungsträger als hilfreich erwiesen: Bei Verdacht ist Information Pflicht. Lieber einmal zu viel Alarm schlagen als einmal zu wenig.

Aber noch funktioniert das System bei weitem nicht gut genug. Zu oft laufen die Fäden aneinander vorbei, kommunizieren Behörden, Mediziner, Schulen, Kitas zu wenig, fehlen die Vernetzungen, die verhindern könnten, dass Kinder durch die Maschen fallen. Zu oft werden Möglichkeiten, Hilfe einzuschalten, nicht genutzt. Zu oft dauert es zu lange, weil behördliche Trägheit ein schnelles Eingreifen verhindert. Da ist jede Menge Optimierungsbedarf.

Aber alle guten Ansätze verpuffen, wenn die "normalen Bürger" sich aus der Verantwortung stehlen. Wenn sie wegsehen, keinen Ärger riskieren wollen, meinen, dass sie das eigentlich nichts angeht.

Verantwortungslos ist auch, wer den Vorwurf der Kindesmisshandlung und des -missbrauchs leichtfertig für eigene Interessen instrumentalisiert, wie es zunehmend in Sorgerechts-Verfahren geschieht. Jeder bewusst zu Unrecht erhobene oder aufgebauschte Vorwurf geht zu Lasten der echten Opfer, weil er auch deren Glaubwürdigkeit erschüttert.

Klar ist aber auch: Wenn (völlig zu Recht) öfter und schneller ein Verdacht an Justiz oder Behörden weitergegeben wird, steigt auch das Irrtums-Risiko. Öffentlichkeit und Medien müssen also sorgsamer mit Schuldzuweisungen umgehen und sauber zwischen Verdacht und Beweis trennen.

d.lintz@volksfreund.de

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