Heuchelei und Taktik

Vor kurzem noch hätten nicht wenige in CDU und CSU es gar nicht so schlecht gefunden, wenn Horst Köhler nicht wieder angetreten wäre. Nun, da er seine Wiederwahl anstrebt, schreit man Zeter und Mordio und bezichtigt die SPD des Koalitionsbruchs.

Das ist pure Heuchelei. Im Koalitionsvertrag steht kein Wort über einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten, aus gutem Grund. Die Präsidentenwahl im nächsten Mai fällt in eine Zeit, in der die Große Koalition ohnehin planmäßig wieder auseinanderdriften sollte. Dass sie schon ein Jahr vorher unter so großer Spannung steht, ist eher Angela Merkel geschuldet. Denn die Kanzlerin hat die Arbeit des Regierungsbündnisses seit Ende letzten Jahres den Interessen der wahlkämpfenden Unions-Landesverbände in Hessen, Niedersachsen, Hamburg und ganz besonders Bayerns unterworfen. Deren Blockade begann mit dem Mindestlohn, geht aktuell bis zur neuen KFZ-Steuer und endet noch lange nicht mit der Föderalismusreform. Merkel hat dem Raum gegeben, mehr noch, sie hat das aktiv unterstützt. Jetzt beklagt ausgerechnet Bayern, Deutschland stünden 16 Monate Regierungsstillstand bevor. Das klingt nach: "Haltet den Dieb". Dumm gelaufen für Kurt Beck, dass man ihn auch noch für den Täter hält. Es ist das gute Recht der Sozialdemokraten, eine eigene Bewerberin aufzustellen. So wie es auch die Grünen und die Linken könnten. Vielleicht sogar sollten. Wenn man das Ereignis am 23. Mai 2009 überhaupt als Menetekel für das nach der Bundestagswahl Kommende wird auffassen können, dann nur dafür, dass im Fünf-Parteien-System (fast) jeder mit jedem können muss und können wird. Horst Köhler selbst hat übrigens am wenigsten ein Problem damit, sich einer offenen, demokratischen Konkurrenz zu stellen. Trotzdem ist das gestrige einstimmige Votum für Schwan im SPD-Vorstand ebenfalls pure Heuchelei. Auch wenn die Hochschulpräsidentin eine sehr gute Kandidatin ist. In Wahrheit ist ihre Nominierung die Folge eines wieder mal grandios die Dinge treiben lassenden und dann von den Ereignissen getriebenen Parteivorsitzenden Kurt Beck. Die Linken in der SPD haben die Stimmungsmacht übernommen, gegen die Besonnenen in der SPD-Führung, und sie jagen Beck nun in das nächste rot-rote Abenteuer. Aussichtsreicher als die Anfang April schon im Ansatz gescheiterte Rot-Grün-Links Duldungskoalition in Wiesbaden ist die Kandidatur Schwans in der Bundesversammlung nicht, nur noch riskanter. Wenn sie Köhler unterliegt, geht die SPD als Verliererin in den Bundestagswahlkampf, allerdings mit dem zusätzlichen Makel, es zusammen mit der Linkspartei versucht zu haben. Wenn etliche SPD-Abgeordnete zu Köhler überlaufen sollten, kann die Partei sich in dieser sensiblen Phase noch einen neuen Vorsitzenden suchen. Oder Schwan gewinnt. Dann wird Beck niemandem mehr erzählen können, er werde nach einem versuchten und gelungenen Wortbruch bezüglich der Linkspartei im Zweifelsfall die Zusammenarbeit mit ihr nicht auch im Bund anstreben. Dann hat die Union den Lagerwahlkampf, den sie immer wollte. nachrichten@volksfreund.de

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