Koalition ohne Vision

Diesem Anfang wohnt noch kein Zauber inne. Die schwarz-gelbe Koalition ist kein neues Projekt, so wie es Rot-Grün im Jahr 1998 war. Sie ist nichts für überschwängliche Schampus-Freude wie einst zwischen Schröder und Fischer.

Dazu haben Union und FDP in der Vergangenheit einfach schon zu lange gemeinsam regiert. Aber diese schwarz-gelbe Koalition hat auch kein gemeinsames Projekt. Ganz im Gegenteil: Angela Merkel hat vor den Wahlen klargemacht, dass das, was ein Projekt sein könnte, das von der FDP vorgeschlagene Reformprogramm, mit ihr garantiert nicht realisiert werden wird. Und die FDP hat die Union dafür beschimpft, dass sie überhaupt kein Reformprogramm habe, was zutreffend ist. Das macht die Sache schwierig.

Fragt man die Matadore nach einer Überschrift zu ihrem Bündnis, so antworten sie: gemach, die werde sich am Ende der Gespräche ergeben. Die Antwort bedeutet: Sie haben keine Überschrift. Sie haben keine Botschaft. Sie wissen nicht, was sie wollen und warum.

So wie es beginnt, so bleibt es häufig. Gestern starteten die Koalitionsverhandlungen unfeierlich und geschäftsmäßig. Man unterhielt sich über Arbeitsgruppen, Themen und Termine. Die erste Gelegenheit, zu Beginn ihrer Zusammenarbeit darüber nachzudenken, wo das Land in vier Jahren stehen soll, haben CDU, CSU und FDP schon versäumt. Stattdessen pokern sie: Wer bekommt das Finanzministerium? Wie stark wird die FDP, wie stark bleibt die CSU? Darf Guttenberg weiter Star sein, oder machen ihn Westerwelle und Seehofer gemeinsam klein? Bekommen die Liberalen substanzielle Zugeständnisse bei Gesundheitsfonds und Bürgerrechten oder lässt die Union ihnen nur symbolische Siege? Wird die Belastung der Bürger mit Steuern und Abgaben real gesenkt oder nur scheinbar - nach dem Prinzip linke Tasche rein, rechte Tasche raus? Es sind Fragen, die die neuen Partner derzeit nach dem Prinzip Geben und Nehmen beantworten, also nach Parteiinteressen. Aber nicht entlang einer gemeinsamen Linie, einer Philosophie ihres Regierens.

Das Wort Reform schreibt sich nach den Erfahrungen mit der Agenda 2010, die eine ganze Volkspartei, die SPD, dahingerafft hat, heute anders als im Jahr 2003, als auch die Union ihre radikalen Leipziger Reform-Beschlüsse fasste. Es schreibt sich noch einmal anders nach der Finanz- und Wirtschaftskrise. Jetzt heißen die wichtigsten Begriffe nicht mehr Eigenverantwortung, Deregulierung, Flexibilisierung - all die Chiffren des Neoliberalismus. Jetzt geht es um eine neue Balance zwischen Staat und Markt, um die Bewältigung der demografischen Veränderung, um Bildungschancen und auch um die Stärkung der Binnennachfrage nach den Jahren der einseitigen Exportorientierung. Was ist die schwarz-gelbe Antwort auf diese Entwicklung? Es wird mit Blick auf die vor ihnen liegenden vier Regierungsjahre ein schwerer Fehler sein, wenn sich CDU, CSU und FDP für diese Debatte nicht bald Zeit nehmen. Denn auf die Geschäftsmäßigkeit der Koalitionsverhandlungen folgt die noch hektischere Geschäftsmäßigkeit des Regierens. Und dann ist es zu spät.

nachrichten.red@volksfreund.de

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