Barbarische Zustände

Der Verwunderung der Passantin darüber, dass der Fuß so lange unbeschädigt geblieben war, kann ich mich nur anschließen. Nun gehört(e) er sicherlich nicht zu den herausragenden Exponaten der abendländischen Kunst - er stand auch eher als Werbe- und Hinweisträger auf die kommende Ausstellung auf seinem Platz und dort etwas einsam, vielleicht für manche fast schon provozierend deplatziert, aber er repräsentierte sowohl allgemeine europäische, insbesondere Trierer Geschichte als auch spätrömische Monumentalkunst zur Verherrlichung des römischen Kaisertums und Reiches.

Geschichte und Kunst gehören nicht (mehr) unbedingt zu den Kernbereichen kultureller Bildung, weder in so genannten "höheren Schulen" noch in den "Volksschulen", die heute allerdings demokratisch oder funktional klingende Namen erhalten haben. Dies ändert aber nichts am Befund, wie ich meine. In einer Gesellschaft, die nicht nur mehr und mehr auseinander bricht, sich entsolidarisiert, dem Geldverdienen und Geldausgeben den höchsten Stellenwert beimisst, Geschichte und Kunst bestenfalls als "Event-Produkte" für mehr oder weniger gelangweilte Konsumbürger auffasst, in der Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen keine Seltenheit (mehr) ist, in einer solchen Gesellschaft haben die vielfältigen Aspekte von Kultur - und Geschichte als Wissenschaft und Kunst im weiteren Sinn als ästhetische Sensibilisierung gehören dazu - keine identitätsstiftende und Selbstvergewisserung unterstützende Funktion mehr. Wenn eine Gesellschaft aber keinen Sinn mehr für ihre kulturelle Überlieferung aufbringt, dann fällt sie in einen fast vorgeschichtlich zu nennenden Zustand zurück. Wenn zudem auch die Sprache verludert - ich meine hier nicht unbedingt die Anglizismen, die vermutlich nach und nach assimiliert werden -, sondern eher begriffliche Unschärfe und syntaktische Schludrigkeit, zu der "moderne" Journalisten nicht wenig beitragen, dann nähern wir uns einem Zustand, den die Griechen und Römer "barbarisch" nannten. Und barbarisch ist die Beschädigung des Fußes wie auch anderer (zum Beispiel architektonischer) Gegenstände zu nennen. Helmut Michael Wilmes, Ralingen-Wintersdorf

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