GESELLSCHAFT

Zur Serie "Glaube und Gewalt" diese Meinung:

Was ist das für ein Mensch? Ein Moslem. Ein Jude. Ein Christ. Er ist Angehöriger einer monotheistischen Religion, die sich auf den Glauben an einen allmächtigen Gott gründet. Und wie wird dieser Mensch zum Moslem, zum Juden, zum Christen? Er wird dazu gemacht. Nicht von einem Glauben oder einem Gott oder einer Vorsehung. Er wird von der Welt gemacht, auf die dieser Mensch gebracht wurde. Und dieses neugeborene Kind ist ein unbeschriebenes Blatt. Wer fängt nun an, auf dieses Blatt zu schreiben? Die Eltern. Die Verwandten. Die Gesellschaft. Die Lehrer. Die Priester. Die Pfarrer. Die Fanatiker. Die Eiferer. Die Dogmatiker. Die Selbstgerechten. Die Missionare. Eine ungeheure Last unsäglicher Verkennung guter Absichten wird diesem neugeborenen Menschen aufgebürdet. Beschwert mit Tradition, Geschichte, Ritualen, Bekenntnissen, Taufe, Beichte, Sünde, Buße, Himmel und Hölle. Und allen Schrecknissen apokalyptischer Reiter. Nie mehr wird dieser behandelte Mensch diese auferlegten Lasten abschütteln können. Auch wenn er konvertiert, an seiner Ausweglosigkeit verzweifelt, dem religiösen Gefängnis entfliehen will. Oder zum Atheisten wird, als der er eigentlich geboren ist. Und wenn dieser geformte Mensch zum richtigen Moslem, Juden, Christen gemacht worden ist, wird er mit der Hybris Unbelehrbarer seine Kinder zu seinem Ebenbild machen wollen. Oder er wird mit Entsetzen feststellen müssen, dass das ausgefüllte Blatt seines Lebens nur eine Abschrift aller im Sinne religiöser Einzwängungen verfasster Blätter ist. Und dass hinter allen diesen Lebensläufen missgebildeter Menschen nur die Angst Machtbesessener steht. Die Angst vor der einzigen Wahrheit, dass der Mensch zu Freiheit und zur Gleichheit geboren ist. Sind denn nicht alle diese vorgefertigten Dokumente versiegelt mit dem zynischen Stempel: Gottesfurcht? Gerhard Kirschbaum, Trier

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