Gesellschaft

Zum Interview "Wer einen Job findet, soll bleiben dürfen" (TV vom 11. Februar) und zur Flüchtlings-Problematik:

Herr Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, hat seinen Job offensichtlich gefunden und wird bleiben dürfen. Glasklar bringt er die Interessen seines Verbands rüber und wie Wirtschaft und Politik daran arbeiten müssen, Deutschland zum Einwanderungsland zu deklarieren, so als hätten wir die (fast) unbesiedelten Weiten neu entdeckter Kontinente um uns. Sicher: Bei uns wird die Gesellschaft als alternd angesehen, die allmählich zum Aussterben tendiert, jedenfalls soweit es um Bevölkerungsdichten geht, die für Handel, Industrie und Politik von Interesse sind. Es wird so getan, als ob die "alternde Gesellschaft" wie ein Naturereignis oder eine Krankheit über uns gekommen wäre. Tatsächlich ist es aber gerade mal etwas mehr als eine Generation her, dass man ein Problem eher in einer ressourcenbedrohenden Überbevölkerung der industriell entwickelten, noch mehr aber der sogenannten unterentwickelten Dritten Welt sah. Nun ist also die Krankheit "Alternde Gesellschaft" über uns gekommen. Der darüber händeringenden Wirtschaft werden in absehbarer Zeit die einheimischen Produzenten als auch Konsumenten fehlen. Deshalb ist für sie eine Zuwanderung von 470 000 Menschen im vergangenen Jahr auch ein "Zuwanderungsgewinn". Und Herr Schweitzer hat pragmatische Vorstellungen davon, wer einwandern sollte: "Berufe, in denen einheimische Bewerber knapp sind." Speziell genannt werden als Beispiel Gastronomie und natürlich die Hochqualifizierten aus allen Berufen. Menschen und Berufe als Markt! Kein Wort davon, dass diese Hochqualifizierten den Herkunftsländern entzogen werden. So "bittet" inzwischen das Kosovo die EU-Staaten, die Massenauswanderung seiner Bürger zu stoppen (TV vom 13. Februar), weil sie dem Land für seinen eigenen Wirtschaftsaufbau - so unterentwickelt dieser auch sein mag - fehlen. Der Begriff "Braindrain" (englisch, etwa: Anzapfen von Gehirnen oder darin enthaltenen Fachwissens) scheint uns nicht mehr bewusst zu sein. In den 60er und 70er Jahren, als Entwicklungshelfer voll Idealismus in "Dritte-Welt-Länder" gingen, um dazu beizutragen, wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen, galt "Braindrain" als Inbegriff imperialistischer Ausbeutung. Es scheint an der Zeit, daran zu erinnern. Heute hat die Völkerwanderung aus Armut- und Kriegsgebieten in die wohlhabenden, aber bevölkerungsärmeren Länder Europas eingesetzt. Mehr noch, es wird sogar dazu eingeladen. Kann man sich wundern, dass Notleidende versuchen, ihre Chance zu ergreifen? Sie verlassen auf überladenen Booten ihre geschundenen Heimatländer in der Vorstellung, in ein gelobtes Land zu wandern. Dass dort weder Voraussetzungen noch eine vorbereitete Infrastruktur noch ein wirklicher Wille zur Integration Hunderttausender mittelloser Zuwanderer besteht, wurde ihnen von den Schleppern, die sie mit ihrem letzten Hab und Gut bezahlen mussten, nicht gesagt. Franz. J. Frey, Kanzem

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