Notzeiten nach dem Krieg

Gisela Lohmüller hat bereits in mehreren Teilen ihre Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg beschrieben. Heute geht es nun um die Zeit danach.

Gegenüber unserem Hof, in einer unserer Wiesen, hatte das Nazi-Regime einen Bohrturm errichten lassen, weil man glaubte, dass es dort Erdöl zu finden gäbe, was sich jedoch nicht bestätigte. Beschäftigt waren hier vor allem Zwangsarbeiter aus Polen. Einige von ihnen blieben noch zuerst nach dem Ende des Krieges. Sie halfen uns freiwillig auf dem Hof und bekamen dafür Milch und Essen. Ich kann mich erinnern, dass ein alter Mann immer die Milch in einem Einweckglas holte. Um die Rillen hatte er einen Draht gewickelt, damit er es besser tragen konnte. Bei uns auf dem Hof waren während des ganzen Krieges keine Zwangsarbeiter beschäftigt. Der Hof war wohl zu klein. Außerdem hatten wir unseren Großvater, der nach Ansicht der Behörden zum Dienst in der Wehrmacht zwar zu alt, aber für die Landwirtschaft noch zu gebrauchen war. Bei den großen Bauern in der Umgebung gab es jedoch viele Polen und Russen, die Zwangsarbeit leisten mussten. Nach dem Zusammenbruch Deutschlands schlossen sich die Zwangsarbeiter in kleinen oder größeren Gruppen zusammen und versuchten, irgendwie durchzukommen. Es gab keine Infrastruktur mehr, keine Möglichkeit, legal an Lebensmittel, Wohnraum oder Heizmaterial zu kommen; weder für Deutsche, noch für die Zwangsarbeiter. Jeder musste sich selber helfen. In dieser Zeit der Anarchie kam es deshalb sehr oft vor, dass Gruppen von Zwangsarbeitern in den Nächten Bauernhöfe überfielen, die Familien fesselten, schlugen und sogar töteten und dann ausraubten. Ich weiß aber, dass erzählt wurde, dass nur solche Bauern, die nicht gut zu den Zwangsarbeitern gewesen seien, in dieser Weise überfallen wurden. Trotzdem hatten wir alle große Angst, und in der Nachbarschaft wurde sogar eine sogenannte Bürgerwehr organisiert, die Nacht für Nacht auf Patrouille ging. Auch unser Großvater war dabei.Kartoffeln, Eier und Milch

Wir hatten das Glück, auf einem, wenn auch kleinen, Bauernhof zu leben. Das bedeutete, dass wir immer genug zu essen hatten und nie Hunger leiden mussten. Ja, wir konnten immer noch etwas abgeben an die vielen Menschen, die von weither kamen und an unsere Türe klopften. Oft war es nur wenig, ein paar Kartoffeln, ein Ei, ein wenig Mehl oder Milch oder ein Butterbrot. Ich wüsste aber nicht, dass meine Mutter einmal jemandem nichts gegeben und weggeschickt hätte. Es gab in dieser Zeit jedoch Bauern, die die Not der hungernden Menschen ausnützten und ihnen für ein Pfund Butter irgendwelche Wertgegenstände abnahmen und sich daran bereicherten. Meine Mutter hat niemals etwas angenommen. Schwierig war es für uns, dass oft unsere Getreide- oder Kartoffelfelder in der Nacht geplündert wurden. Da blieb uns nichts anderes übrig, als nachts die Felder zu bewachen. Es war eine schwere Zeit damals; für alle Menschen. Der Winter 1945/46 war ein sehr kalter Winter mit viel Schnee und frostigen Temperaturen. Dieser Winter wurde später als der sogenannte "Hungerwinter" bezeichnet. Besonders den Menschen in den Städten ging es sehr schlecht. Die Häuser waren zum größten Teil zerstört oder nur notdürftig wieder bewohnbar gemacht. Es gab kaum Heizmaterial. Lebensmittel gab es, wenn überhaupt, nur auf Karten. Die Menschen haben in diesem Winter furchtbar gelitten und regelrecht um ihr Überleben kämpfen müssen. Am schlimmsten war es jedoch für die vielen Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands, die zu Millionen zu uns in den Westen geflüchtet waren. Sie hatten alles verloren und waren oft traumatisiert von den schrecklichen Erlebnissen ihrer Flucht und Vertreibung. Bei uns in Rheine waren sie in den ehemaligen Kasernen der Wehrmacht untergebracht bzw. dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Schließlich beschlagnahmte die englische Verwaltung in jedem Haus einen Raum, der einer Flüchtlingsfamilie abgetreten werden musste. Bei uns wurde das Wohnzimmer beschlagnahmt, und die Familie Franke aus Schlesien zog dort ein. Kochen musste die Familie in der Küche auf dem Herd, gemeinsam mit uns. Ich kann mich erinnern, dass meine Mutter und die Tanten nicht besonders froh damit waren, doch sie mussten es hinnehmen und akzeptieren. Damals war wirklich und wahrhaftig das Teilen notwendig! Alles musste mit den Bedürftigen geteilt werden: der Wohnraum, das Essen, die Wärme. Nur so konnte die schlimmste Not "gewendet" werden!

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