Thomas Schlottmann und der Vogel

In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, da lebte einmal Familie Schlottmann: Mama Schlottmann Papa Schlottmann Amelie Schlottmann Franziska Schlottmann Thomas Schlottmann Klein-Heinz Schlottmann und das kleine Baby Claudia Schlottmann.

An manchen Tagen war das Leben einfach perfekt - und an anderen genau das Gegenteil davon. Da hatte Thomas das Gefühl, von niemandem verstanden zu werden, alle anderen nicht zu verstehen und einfach nicht dazuzugehören. Das war ja sowieso die Frage aller Fragen: Wem gehörte eigentlich die Welt?
Wenn er in einer solchen Stimmung war, dann legte sich Thomas gerne unter den größten Baum, den er gerade finden konnte, am liebsten aber unter die alte Birke, die gar nicht weit entfernt von ihrem Haus stand und die immer so freundlich ihre Arme über ihm ausbreitete. Ja, er hatte das Gefühl, als würde sie ihn wirklich kennen und er kannte sie.
"Du hast es gut, du stehst hier und niemand schubst dich herum."
Ja, die anderen hatten ihn heute herumgeschubst.
"Thomas, hol mir mal die Schere aus der Küche; Thomas geh mal rüber, du stehst im Weg; Thomas jetzt häng deinen Mantel endlich auf", so ging das die ganze Zeit. Im Kindergarten war es auch nicht besser gewesen, David war krank und die anderen Kinder wollten nicht mit ihm spielen.
"Spielst ja sonst auch nur mit David", hatte Simon gesagt.
Ja, am liebsten spielte er mit David, das stimmte.
Da flog ein Vogel auf einen Birkenast und setzte sich so selbstverständlich, als wäre die Birke sein Wohnzimmer. Ganz schwarz war er und vor den grau-weißen Ästen des Baumes sah er so dunkel aus, als hätte dort jemand ein Loch in den Himmel geschnitten, ein Loch in der Form eines Vogels. Eine Amsel oder ein Rabe. Wahrscheinlich ein Rabe, denn die waren größer als Amseln, das wusste Thomas, sonst wusste er noch nicht viel von Vögeln.
Der Vogel plusterte sich auf und dann begann er, sich zu putzen.
"Du musst mich doch sehen", dachte Thomas und wunderte sich, dass der Vogel ihn so gar nicht beachtete.
Thomas setzte sich auf, verlor den Raben aber nicht aus den Augen. Aber immer noch würdigte der Rabe ihn keines Blickes.
"Wenn er doch nur davonfliegen würde, damit ich wieder alleine bin", dachte Thomas ärgerlich.
"Ich war doch zuerst hier." Er nahm all seinen Mut zusammen und klatschte in die Hände.
Nein, davon ließ der Vogel sich nicht beeindrucken.
"Selbst so ein Vogel macht mit mir, was er will." Ja, Thomas tat sich heute leid. Wie fremd ihm diese Welt doch war.
Da, plötzlich, verlor der Vogel eine große schwarze Feder, langsam segelte sie herunter, genau neben Thomas.
"Vielleicht hat er mich ja doch gesehen."
Die Feder eines Raben. Sie war schön und groß, Thomas hob sie auf und hatte das Gefühl, als sei sie warm.
"Du hast eine Feder verloren", rief er und hielt die Feder in die Luft. Der Vogel schüttelte sich.
"Ob ich sie wohl behalten darf?" fragte er sich. Dem Vogel schien es völlig egal zu sein, dass er die Feder verloren hatte, vielleicht hatte er es gar nicht gemerkt oder vergessen.
"Schenkst du sie mir?" Immer noch reagierte der Vogel nicht, putzte sich einfach weiter.
Da stand Thomas auf und lief nach Hause, die Feder in der Hand. Schnell lief er in sein Zimmer und legte sie unter sein Kopfkissen.
"Jetzt gehört sie mir", dachte er und komischerweise hatte dieser Gedanke etwas Beruhigendes, Versöhnendes.
Der Rabe saß über ihm in den schönen Ästen der Birke und verlor eine Feder. Genau neben ihm landete sie auf der Erde, ohne ein Geräusch zu machen, legte sie sich sanft neben ihn. Thomas hob die Feder auf und streckte sie dem Raben entgegen.
"Du hast eine Feder verloren", rief er laut. Der Rabe schüttelte sich.
"Mir doch egal, die gehört mir nicht", krächzte er.
Thomas schaute auf die Feder. Er hatte doch gesehen, wie sie heruntergefallen war, genau dann, als der Rabe begonnen hatte, sich zu putzen. Es war genau so eine Feder, wie der Rabe viele an seinem Körper trug. Ein ganzes Kleid davon trug er und zu ersten Mal verstand Thomas, warum man bei einem Vogel von einem "Federkleid" sprach.
"Aber wem gehört sie dann?" Die Feder glänzte schön in seiner Hand, schwarz und wenn die Sonne darauf schien, leuchtete sie sogar ein wenig blau.
"Dir gehört sie auch nicht", krächzte der Rabe.
"Niemandem. Keiner hat sie und keiner braucht sie. Und der Baum, auf dem ich sitze, auch er gehört niemandem. Ich darf darauf sitzen und du darfst darunter liegen. Aber sonst nichts."
"Also hast du mich ja doch gesehen", rief Thomas, fast schon triumphierend.
Es war wohl doch nicht so einfach, ihn einfach zu übersehen.
"Darf ich sie denn mitnehmen?" fragte er den Raben.
"Was fragst du mich? Nimm sie mit und irgendwann ist sie weg, du weißt nicht wo. So ist das mit allem."
Dann flog der Rabe davon.
Thomas lag in seinem Bett und fühlte unter dem Kissen. Ja, da lag die Feder. Er streichelte sie und immer noch fühlte sie sich warm an. Der Rabe hatte ihn gesehen und ihm eine Feder geschenkt, da konnte er sagen, was er wollte. Aber vielleicht hatte er auch recht und irgendwann würde die Feder weg sein, vielleicht würde er sie sogar vergessen. Thomas glaubte es nicht, aber es könnte sein. Und genau deshalb fand er die Feder jetzt noch schöner und er schwor sich, besonders gut auf sie aufzupassen.
Am nächsten Tag war David wieder gesund. Dafür war Ben krank und Ben warf Simons bester Freund.
"Darf ich mitspielen?" fragte Simon David und Thomas. David hatte nichts dagegen, doch Thomas überlegte. Er hatte nicht vergessen, dass Simon ihn gestern nicht hatte mitspielen lassen. Aber dann fiel ihm seine Feder ein, heimlich hatte er sie heute in den Rucksack gesteckt und mit in den Kindergarten genommen, nicht, um sie jemandem zu zeigen, nein, aber er wollte sie nicht verlieren. So lange es ging, wollte er auf sie aufpassen. Er schaute Simon an. Vielleicht wäre Simon ja auch irgendwann weg, vielleicht würde er ihn vergessen. Er glaubte es nicht, aber es könnte sein. Und deshalb musste er auf Simon aufpassen und natürlich durfte er mitspielen.
"Ja", sagte er, "du darfst mitspielen. Ich weiß auch schon was." Und dann spielten sie, sie wären Federn im Wind.

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