Mediale Fehlernährung

Vergessen wir die jüngsten Terroranschläge, vergessen wir die besorgniserregende Entwicklung in der Türkei. In diesen Tagen lassen sich weltweit Millionen Menschen von einem ganz anderen Ereignis in Wallung versetzen: von einem Smartphone-Spiel.

Es wird als die bahnbrechende Innovation schlechthin gepriesen, weil es die reale und die virtuelle Welt miteinander verbindet. Die Aktienkurse des japanischen Spielekonzerns Nintendo schnellen pfeilartig in die Höhe, haben sich binnen kürzester Zeit verdoppelt. (Erwachsene) Menschen jagen dank Pokémon go überall Minimonster. Und schon ist ein neues Wort gefunden: Pokémania. Ein Rausch, bei dem Verbraucher- und Sicherheitsschützern die Haare zu Berge stehen, weil die App fleißig die Daten ihrer Nutzer sammelt und weitergibt. Immerhin aber sorgt das Spiel für körperlichen Ausgleich. Es führt auch notorische Bewegungsmuffel hinaus ins Freie. An ausgewählte Orte, wo Monster bekämpft, gefangen oder getauscht werden. Ganz reale Nebenwirkungen inbegriffen - wie Zusammenstöße unter anderem mit einem Polizeiauto, unerwartete Leichenfunde (soll schon fünfmal passiert sein) oder Überfälle in finsteren Ecken, wohin die Spieler von Kriminellen gelockt werden. Tatsächlich ist die Verschmelzung von realer und künstlicher Welt aber doch gar nichts Neues. Verstärkt durch die unendlichen Räume und Möglichkeiten des Netzes gehen Fantasie und Wirklichkeit, Fakten und Lügen, Dokumentation und Verschwörungstheorie immer bunter und beliebiger durcheinander. Die Folge davon scheinen mir Desorientierung und eine wachsende mediale Fehlernährung zu sein, bei der offenbar das Gespür für Ernst oder Echtheit einer Situation und damit auch die Fähigkeit zur Empathie, zum Mitgefühl verloren gehen. Wie anders ist beispielsweise das Gaffer-Phänomen zu erklären? Es breitet sich derart aus, dass die Politik jetzt schärfere Gesetze und empfindlichere Strafen plant. Kaum ein schwerer Unfall, bei dem Schaulustige (was für ein verräterisches Wort!) statt zu helfen oder wenigstens Rettern Platz zu machen nicht ihre Handys zücken und Bilder von Verletzten, Getöteten oder mit dem Tode Ringenden in Echtzeit ins Internet stellen. Gerne auch als Selfie: Ich und das Unglück der anderen. Schau, lustig! Wichtigtuerei auf Kosten und zum weiteren Schaden von Menschen, die ohnehin schon Opfer sind. Ähnliches gilt für den Katastrophentourismus. Sicher, den gab es ebenso wie die Gaffer schon immer, aber die Möglichkeit, sich damit aller Welt im Internet zu präsentieren, scheint die Gier nach dem Schrecklichen, das einem selbst erspart blieb, noch zu steigern. Bei dem Hochwasser Ende Mai beispielsweise, das das schwäbische Braunsbach fast völlig zerstörte, musste die Polizei laut Landesschau aktuell allein in einem Zeitraum von eineinhalb Stunden mehr als 180 Autos stoppen, deren Fahrer auf einer für Auswärtige gesperrten Straße in den Ort drängen wollten. Nicht mehr das Geschehen als solches ist Nachricht und Botschaft, sondern dass Ich! Ich! Ich! dabei war. Wie armselig. Wie bedeutungslos.

Isabell Funk, Chefredakteurin

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