Das blaue Wunder der Formel 1

Trier/Stuttgart · Wenn jemand sein blaues Wunder erlebt, ist damit meist eine gehörige Überraschung verbunden. Den Begriff gibt es aber auch im Automobilbereich - für eine Kombination aus Rennfahrzeug und LKW. Auf die Idee kam der legendäre Alfred Neubauer (1891 - 1980), Rennleiter bei Mercedes-Benz.

Trier/Stuttgart. Ein Auto, das Rennwagen und Nutzfahrzeug zugleich ist? Halb LKW und halb Motorsportgerät und demzufolge auch entsprechend motorisiert? Das gibt es, und zwar richtig windschnittig mit einem Stern vorne drauf. Einen Renntransporter nämlich mit einem Antriebs aggregat, das auch im 300 SL Flügeltürer von Mercedes seinen Dienst verrichtete.
Vorlage des aktuellen Fahrzeugs ist ein Transporter aus der Zeit der großen Silberpfeile zu Beginn der 1950er Jahre. Das mit SL-Stilelementen ausgestattete, blau lackierte Fahrzeug diente damals dazu, die Boliden vom Typ W 196 und 300 SLR vom Werk zu den Renn strecken zu transportieren.
Als sich die Schwaben 1955 aus dem aktiven Renngeschehen zurückzogen, fand das blaue Wunder keine Verwendung mehr. Der flotte mobile Lademeister wurde nicht mehr gebraucht, und 1967 ereilte ihn das Schicksal in Gestalt einer erbarmungslosen Schrottpresse.
Die Idee allerdings blieb in den Köpfen findiger Marketingleute des Hauses hängen. Als 2001 der 100. Geburtstag der Marke Mercedes-Benz gefeiert wurde, war die Nachbildung des Unikats aus den frühen 1950er Jahren plötzlich wieder da. Beim Festival of speed im englischen Goodwood wurde der Transporter begeistert gefeiert. Das Fahrzeug mit der weit nach hinten geschobenen Vorderachse und überhängendem Führerhaus ist vor allem bei Oldtimer-Veranstaltungen ein Blickfang. Es verfügt trotz des wuchtigen optischen Auftritts über einen relativ kleinen Wendekreis. Auf dem Nürburgring etwa kann man das blaue Wunder beim alljährlichen AvD-Old timer-Grandprix oder auch beim Eifelrennen sehen.
Wegen seiner Höchstgeschwindigkeit von sage und schreibe 170 km/h - auch mit einem darauf festgeschnallten W 196 oder 300 SLR - muss dieser LKW mit den runden, windschnittigen Formen seinerzeit wie ein von einer Zeitmaschine zurück versetzter Geist aus der Zukunft gewirkt haben. In einer frühen Ausgabe der Fachzeitschrift Motor-Klassik vermutet der Autor, der Renntransporter sei "eine perfide Form der psycholo gischen Kriegsführung, um die Konkurrenz bereits bei der Anfahrt zur Rennstrecke in Angst und Schrecken zu versetzen".
Der Wagen geht zurück auf eine Idee des legendären Mercedes-Rennleiters Alfred Neubauer, der seine Fahrzeuge möglichst schnell vom Werk an die Rennstrecke bringen wollte. Auf diese Weise verschaffte er sich einen zeitlichen Vorsprung, um noch möglichst lange an den Silberpfeilen arbeiten zu können. Der renommierte Automobilhistoriker Christopher Hilton notierte nach Juan Manuel Fangios drittem Formel-1-Fahrertitel mit einer Mischung aus Sarkasmus und Bewunderung, dass Mercedes "für Notfälle einen Lastwagen hat, der 170 km/h schnell ist. Wie könnte es auch anders sein."
Im neuen Mercedes-Benz- Museum in Stuttgart ist die Nachbildung heute mit einem 300 SLR (W 196 S) auf der Ladefläche zu sehen.

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