Nächte im Keller

Ich lebte damals 1944 mit meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Bruder, der Soldat war, in Ferschweiler, vier Kilometer von der Luxemburger Grenze entfernt. Wir wohnten im Schulgebäude in der Dienstwohnung unseres Vaters.

Die Dorfschule blieb nach den Sommerferien weiterhin geschlossen, da der Ort von der "Luxemburger Seite" aus beschossen wurde. Bis dorthin waren die amerikanischen Truppen bereits vorgedrungen. Die Schulräume wurden von deutschen Soldaten belegt. Um ein Lazarett vorzutäuschen, wurden zeitweise auf dem Schulhof riesige Rot-Kreuz-Planen ausgelegt, und wir hatten große Angst. Ende August wurde die Dorfbevölkerung aufgefordert, den gefährdeten Ort zu verlassen. Mit einem alten, klapprigen Lastwagen fuhren wir nur mit Handgepäck ins Elternhaus meines Vaters nach Trier. Hier ereilte uns wenig später das gleiche Schicksal. Trier wurde von Wasserbillig her beschossen, und ein schwerer Luftangriff im September forderte Opfer. Wir fuhren mit der Moseltalbahn nach Minheim zur "Herbergssuche". Familie Josef Wanninger stellte uns drei geräumige Mansardenzimmer zur Verfügung, und wir waren glücklich. Da die amerikanischen Soldaten inzwischen an der deutsch-luxemburgischen Grenze in harten Kämpfen zurückgedrängt wurden, mussten wir in diesem ruhigen, beschaulichen Moselort "überwintern". Im Frühjahr 1945 setzten die Amerikaner erneut ihren Kampf gegen den Westen Deutschlands fort. Ort für Ort wurde eingenommen, und es ging alles rasend schnell. In kürzester Zeit standen die Alliierten an der Mosel. Aus unmittelbarer Nähe wurde Minheim hauptsächlich nachts beschossen. Das Dorf war voller deutscher Soldaten, und wir verbrachten die Nächte im Keller. In der Nacht zum 16. März hörten wir in der Wohnung über uns Getrampel und Stimmengewirr. Ein amerikanischer Spähtrupp hatte unser Haus besetzt. Als die deutschen Soldaten dies witterten, schossen sie eine Panzerfaust ins Haus. Es gab einen mächtigen Knall, die Kellertür flog auf und es roch nach Qualm und Feuer. Unsere Wohnung im oberen Stockwerk und die Scheune brannten lichterloh. Panikartig verließen wir den Keller. Es kam zum Feuergefecht zwischen deutschen und amerikanischen Soldaten. Durch die Schusslinie verlief unser Fluchtweg. Als ich einen letzten Blick zum Haus zurückwarf, sah ich einen Amerikaner am zerborstenen Küchenfenster stehen, die Waffe auf uns gerichtet. In Todesangst rannten wir durch den Garten. Mit ungeahnten Kräften rissen wir Zäune und Gartentor nieder, um ins Freie zu gelangen. Über die Wiese liefen wir an gerade gefallenen Soldaten vorbei. Ein guter Schutzengel muss wohl dabei gewesen sein, denn es fiel während unserer Flucht kein einziger Schuss. Nach rund 100 Metern, die uns wie eine Ewigkeit vorkamen, landeten wir total erschöpft im Keller eines Nachbarn. Diesen Tag werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Es war der Tag nach meinem 16. Geburtstag. Erst Mitte April konnten wir zurück nach Hause. Unser Heimatort Ferschweiler war zerstört. Heute noch bin ich dem Hause Wanninger in Freundschaft verbunden, einen Besuch in Minheim verbinde ich immer auch mit einem Besuch auf dem Friedhof. Hier fanden die deutschen Soldaten eine würdige Ruhestätte. Irene Philippi, geborene Haller, lebt heute in Trier. Das Kriegsende erlebte sie an der Mosel.

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