Wenn Kinder zuhause nicht mehr sicher sind

Bitburg/Prüm · 240 Meldungen von Kindesmisshandlung, Verwahrlosung und Vernachlässigung gehen pro Jahr beim Jugendamt des Eifelkreises ein. In 80 bis 90 Prozent der Fälle ist der Verdacht - zumindest ansatzweise - begründet, bei jedem zehnten Fall muss das Jugendamt wegen akuter Gefährdung sofort eingreifen.

Bitburg/Prüm. An der Zahl gibt es nichts schönzureden. 240 Verdachtsfälle gibt es im Schnitt pro Jahr beim Jugendamt des Eifelkreises. Die Behörde liegt damit unter den 41 Jugendämtern in Rheinland-Pfalz an vierter Stelle. Doch es ist unklar, woran die hohen Werte liegen: ob die Aufmerksamkeit der Mitbürger im Eifelkreis besonders hoch ist, oder ob Kinder und Jugendliche hier deutlich mehr unter Misshandlung, Verwahrlosung und Vernachlässigung leiden als anderswo. Wie ist das zu erklären? "Das können wir nicht sagen und wüssten es auch gerne", sagt Heike Linden, Pressesprecherin der Kreisverwaltung, doch sei die Anzahl der Meldungen im Eifelkreis schon immer recht hoch gewesen. Allerdings gehörten dazu auch Fälle, in denen etwa bei Kindern oder Eltern psychische Erkrankungen vorlägen oder die Erziehung und Förderung der Kinder nicht gewährleistet sei.
Das geht auch aus einer landesweiten Vergleichserhebung hervor, bei der seit 2002 sämtliche Daten der rheinland-pfälzischen Jugendämter erfasst werden. Demnach muss das Bitburger Jugendamt in zehn Prozent der gemeldeten Fälle sofort eingreifen, da eine akute Gefährdung von Kindern vorliegt. Bei 30 Prozent besteht Beobachtungs- sowie Hilfebedarf, bei weiteren 40 bis 50 Prozent der Fälle haben die Familien Anspruch auf Unterstützung. "In 80 bis 90 Prozent der Fälle ist also was dran", sagt Heinz Müller vom Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz, das für die landesweite Datenerhebung zuständig ist.
Möglicherweise aber haben auch zwei Fälle von Kindesmisshandlungen, die sich vor zwei Jahren im Eifelkreis ereignet haben, dazu beigetragen, dass die Sensibilität für Kinderschutz bei der Eifeler Bevölkerung mittlerweile besonders hoch ist: Im Jahr 2010 starben zwei kleine Jungen, beide kein Jahr alt. Der eine wurde derart geschüttelt, dass er an den Folgen seiner Verletzungen starb, der andere starb an Unterernährung und Austrocknung, weil seine Eltern mit der Pflege überfordert waren (der TV berichtete). Das Jugendamt hatte im Vorfeld keinen Kontakt zu den Familien - und konnte daher auch nicht früher reagieren.
Hat die Behörde dagegen Kenntnis von einer gefährlichen Situation in der Familie, wird schnell gehandelt: 30 Kinder werden pro Jahr unmittelbar in Obhut genommen. "Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Kinder dann dauerhaft fremd untergebracht sind", erklärt Linden. "Viele kehren nach Klärung der Situation, der Einrichtung von Hilfen oder per gerichtlichen Beschluss nach Hause zurück."
Aufgabe des Jugendamts sei es, "Familien unterstützende Hilfe anzubieten und die Familienkonstellation zu erhalten", sagt Linden. In der überwiegenden Zahl der Fälle funktioniere das auch: "Wir müssen eine Situation schaffen und erhalten, in der auch mit den Eltern, selbst mit Tätern, weitergearbeitet werden kann."Meinung

Lieber ein Hinweis mehr…
Es ist eine enorm hohe Zahl: Das Jugendamt Bitburg-Prüm bekommt jährlich 240 Meldungen von Kindesmisshandlung, -verwahrlosung und -vernachlässigung. Und dennoch ist es gut, dass Nachbarn, Schulen, Kindergärten oder Kliniken Alarm schlagen - auch wenn sich mancher Verdacht als unbegründet erweist. Tun sie es nicht, sind die Mitarbeiter des Jugendamts hilflos - was sich an den beiden Fällen misshandelter beziehungsweise vernachlässigter Babys im Eifelkreis aus dem Jahr 2010 zeigt: Erst, als es zu spät war, wurden die beiden Jungen ins Krankenhaus gebracht, und das Jugendamt wurde eingeschaltet. Für die schwerverletzten beziehungsweise schwerkranken Jungen aber kam jede Hilfe zu spät. Ihre Fälle zeigen die Ohnmacht einer Behörde, die darauf angewiesen ist, dass sie frühzeitig über Probleme in Familien informiert wird. Deshalb gilt: Lieber ein Mal mehr einen Verdacht melden, als einmal zu wenig. n.ebner@volksfreund.deExtra

Wird beim Jugendamt ein Verdachtsfall gemeldet, folgt darauf ein vorgegebener Ablauf: Die Situation wird (immer von zwei Kollegen) überprüft. Und in Fällen, die dem Jugendamt noch nicht bekannt sind, folgt unmittelbar ein Hausbesuch, bei dem die Kinder und die Gesamtsituation begutachtet werden. Bei akuter Gefährdung werden die Kinder in Obhut (Pflegefamilie, Heim) genommen, ansonsten sammeln Kindergarten, Schule und Umfeld Informationen. Intern besprechen die Mitarbeiter die weitere Vorgehensweise nochmals mit der Leitung. Bei nicht akuter Gefährdung führt das in der Regel dazu, dass die Familie weiter engmaschig betreut wird und/oder Hilfen angeboten und eingeleitet werden, sofern diese auch angenommen werden. Manchmal muss auch das Familiengericht eingeschaltet werden, um zu klären, ob und unter welchen Umständen die Kinder bei den Eltern bleiben können. uheExtra

Angesichts der hohen Zahl gemeldeter Fälle im Eifelkreis Bitburg-Prüm ist dort auch die personelle Belastung entsprechend hoch. Während beispielsweise bei der Jugendhilfeplanung im Landesschnitt auf 10 000 Einwohner unter 21 Jahren gerade mal 0,4 Personalstellen fallen, sind es im Eifelkreis sogar nur 0,2 Stellen. Ähnlich angespannt ist die Situation im Sozialen Dienst, der für die allgemeine Betreuung zuständig ist. Landesweit kommen hier auf eine Vollzeitstelle knapp 55 zu betreuende Fälle. Im Eifelkreis sind es 90 Fälle pro Vollzeitstelle. Insgesamt teilen sich die Mitarbeiter im Sozialen Dienst des Bitburger Jugendamts auf knapp 10,4 Vollzeitstellen auf. uhe

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