Die Mauer des Schweigens wird durchbrochen

Gerolstein · Die katholische Kirchengemeinde St. Anna in Gerolstein war in den vergangenen eineinhalb Jahren mehrmals wegen sexuellen Missbrauchs in die Schlagzeilen geraten. Pastor Ralf Pius Krämer will die Aufarbeitung an dem Ort des Geschehens - in der Gemeinde. Deshalb hatte er gemeinsam mit Mitgliedern des Aktionsbündnisses Opfer sexuellen Missbrauchs im Bistum Trier (Missbit) zu einem Gesprächsabend ins Pfarrheim eingeladen.

 Thomas Schnitzler blättert in seinem Buchmanuskript. Auf 300 Seiten beleuchtet der Historiker die Rolle der Kirche zum Thema sexueller Missbrauch. TV-Foto: Katja Bernardy

Thomas Schnitzler blättert in seinem Buchmanuskript. Auf 300 Seiten beleuchtet der Historiker die Rolle der Kirche zum Thema sexueller Missbrauch. TV-Foto: Katja Bernardy

Gerolstein. Die Pfarrgemeinde St. Anna in Gerolstein hat schwer zu tragen: Vor vier Monaten war ein Obermessdiener, der sich an mehreren Jugendlichen vergriffen hatte, zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Das Brisante: Er selbst war wohl von 2000 bis 2003 von einem Gerolsteiner Vikar missbraucht worden.
Auch in den 60er-Jahren hatte ein Kaplan in der Eifelstadt mehrere Jugendliche missbraucht. Eine Mutter hatte damals einen Fall angezeigt. Danach war der Geistliche in die Trier-Kürenzer Pfarrei versetzt worden.
Am Freitagabend bot Pastor Ralf Pius Krämer den Gerolsteinern erstmals ein öffentliches Forum, um über die Missbrauchsfälle zu sprechen: Nur ein Viertel der aufgestellten Stühle war besetzt. 15 Betroffene und Menschen, die nach dem Geschehenen viele offene Fragen und Redebedarf haben, waren gekommen.
Den Auftakt machte Missbit-Sprecher Thomas Schnitzler. Er selbst war in der Trier-Kürenzer Pfarrei St. Bonifatius Missbrauchsopfer des Ex-Gerolsteiner Kaplans geworden. Schnitzler ist Historiker, und sein Weg, mit den Folgen fertigzuwerden, ist, zu recherchieren, wie es zum Missbrauch kommen konnte und wie die katholische Kirche ihn aufarbeitet. Die Ergebnisse stehen mittlerweile in einem 300-seitigen Manuskript (siehe Extra), und er ließ die Gerolsteiner an seinen Erkenntnissen teilhaben. Schnitzler behauptet, Kirche vertusche die systembedingten Ursachen. "Das autoritäre, hierarchische System der Kirche bot zu jeder Zeit die Rahmenbedingungen für den Missbrauch", sagt Schnitzler. Kollektives Schweigen ermögliche Strafvereitelung und Täterschutz.
Ein Senior, der sich zu Wort meldete, unterstrich diese These. Er schilderte Beispiele, in denen "geklüngelt" wurde, um zu vertuschen. Auch Missbit-Mitglied Helmut Waldorf aus Vallendar erläuterte, was ihm ein Geistlicher angetan hatte und wie das Brechen seines Schweigens eine allmähliche Heilung ermöglichte.
Auch Gespräche zwischen Opfern und dem Trierer Bischof und Missbrauchsbeauftragten der deutschen katholischen Kirche, Stephan Ackermann, hätten stattgefunden - zwei offizielle und ein inoffizielles (der TV berichtete). Im März dieses Jahres hatte die katholische Kirche Missbrauchsopfern angeboten, bis zu 5000 Euro Entschädigung zu zahlen. Bis 10. August haben laut Bistumssprecher Stephan Kronenburg 27 Opfer im Bistum Trier einen Antrag auf Entschädigung gestellt.
Sprachlosigkeit hingegen erlebt immer noch ein Mittfünfziger in Gerolstein: "Erst bei Klassentreffen zu später Stunde, wenn alle genug gesoffen haben, wird geredet."
Pastor Krämer sagt: "Gerolstein ist in eine große dörfliche Struktur eingebunden, man redet nicht." Aber die Pfarrgemeinde könne nicht wegschauen, sondern müsse Raum geben, die Dinge, "die Menschen in ihrem Menschsein verkümmern lassen", zu benennen.
Von ihrer Zerrissenheit, zu sprechen oder zu schweigen, erzählte eine Gerolsteinerin: "Mir kam das mit dem Obermessdiener alles sehr komisch vor. Aber hätte ich etwas gesagt und es wäre nichts gewesen, was hätte ich angerichtet? Ich hätte wegziehen können."
Auch auf diese Frage: Wie kann ich etwas sagen, wenn ich etwas bemerke, was nicht rechtens ist, will Pastor Krämer Antworten finden. "Ziel der Einladung zu diesem Gespräch war, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen", sagte der Geistliche. Er will Betroffene nochmals einladen, ihre Erfahrungen untereinander auszutauschen. Neues Vertrauen soll aufgebaut werden.
Die 19-jährige Wiebke Steen resümierte am Ende: "Interessant, wie viele Parallelen es zu früher gibt. Aber ich wünsche mir, noch mehr über das zu erfahren und zu sprechen, was in den letzten Jahren war."Thomas Schnitzler ist Missbit-Sprecher und Historiker. Seit Anfang des Jahres schreibt er an einem Buch über den Missbrauch im Bistum Trier. Der Titel: "Ich werde Dir wie ein Vater sein" - ein Satz, den ein Priester häufig zu einem Missbrauchsopfer sagte. Derzeit arbeitet er am letzten Kapitel "Glaube geht vor Recht und Wahrheit". Das Buch beinhaltet 18 Täterbiografien, zwanzig Schilderungen von Opfern und 35 "Tat"-Orte im Bistum Trier werden zur Sprache kommen. Der Autor will aufzeigen, wie die Kirche die systembedingten Ursachen vertuscht, Strafvereitelung und Täterschutz durch kollektives Schweigen möglich werden und wie die Kirche den Missbrauch aufarbeitet. Schnitzler geht davon aus, dass das Buch im Frühjahr 2012 erscheinen wird.

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