Ein Mann der ersten Stunde

GEROLSTEIN/DAUN. Am 6. April 1967 wurde die Lebenshilfe Kreisvereinigung Daun gegründet. Was der Verein in vier Jahrzehnten für die Menschen mit geistiger Behinderung getan hat, legt Vorsitzender Klaus Peter Metzger (Daun) dar. Was das Wirken des Vereins für einen einzelnen Menschen bedeutet, zeigt der Trierische Volksfreund beispielhaft an Richard Krämer (Gerolstein).

Der Gruppenraum im Behindertenwohnheim in der Gerolsteiner Lindenstraße sieht aus wie ein großes Familienwohnzimmer. Es gibt einen Esstisch für mindestens zwölf Leute und eine Sofa-Ecke mit Fernseher, an den Wänden sind Fotos und selbstgemalte Bilder, auf einer Kommode stapeln sich Spiele und Bücher. An diesem Nachmittag ist es ruhig im Haus, die meisten Bewohner sind zur Arbeit in den Westeifel Werken. Heimleiter Michael Kreis hat den TV angekündigt, und Richard Krämer - dem mit 74 Jahren ältesten Heimbewohner gilt in erster Linie der Besuch - ist schon ziemlich aufgeregt. Er möchte das Gespräch in seinem Zimmer führen. Das hält auch Michael Kreis für sinnvoll, denn Richard Krämer kann sich besser unterhalten, wenn er nicht gestört und abgelenkt wird. Das Zimmer ist gemütlich eingerichtet, alles hat seinen Platz. "Er achtet genau auf Ordnung und macht es unter Anleitung selbstständig sauber", sagt der Heimleiter. Und wenn er Richard Krämer zum "Mann der ersten Stunde" erklärt, hat das mit der nun schon jahrzehntelangen Verknüpfung seines Lebens mit der Lebenshilfe Kreisvereinigung Daun (siehe Hintergrund) zu tun. Richard Krämer ist 1932 im Kelberger Ortsteil Zermüllen geboren. Was Mediziner und Therapeuten als "leichte geistige und starke psychische Behinderung" beschrieben haben, ließ ihn schon als Kind zum Eigenbrötler werden. Er ging ein paar Jahre in die Volksschule und lernte in Grundzügen Lesen, Schreiben und Rechnen. Nur widerwillig half er als junger Mann in der Landwirtschaft von Verwandten mit. Die Arbeit gefiel ihm nicht, und noch heute bezeichnet er es als Glück, dass er 1973 eine Stelle in der von der Lebenshilfe in der alten Schule in Kopp provisorisch eingerichteten Werkstatt für Menschen mit Behinderungen bekam. "Da haben wir Schneebesen und Diarähmchen gemacht", erzählt er. Auch an seinen ersten Urlaub mit der Lebenshilfe ("Cuxhaven!") und an den Umzug in die neu erbaute Werkstatt in Gerolstein im Jahr 1979 erinnert er sich noch gut. "Da war alles größer und schöner, und wir haben mehr verdient", sagt er. Bis zum Tod seines Vaters 1991 wohnte Richard Krämer im Elternhaus. Weil im Wohnheim in Gerolstein zu dem Zeitpunkt kein Platz frei war, zog er vorübergehend in das Haus der Lebenshilfe in Prüm. Seit dem 2. Januar 1994 ist seine Adresse die Gerolsteiner Lindenstraße. Und seit 1996 ist er in Rente. "Er liebt Gespräche über Erderwärmung und den Golfstrom und Ausflüge zu Pilgerorten", erzählt Michael Kreis. "Banneux und der Schwarzenberg bei uns zu Hause," ergänzt Richard Krämer. Jeden Donnerstag ist Krankengymnastik und jeden Dienstag Café-Besuch. Ein Wochenende im Monat verbringt er bei seiner Schwester in seinem Heimatdorf. Er hilft täglich beim Falten der Wäsche. Er geht gern allein in die Stadt und erledigt Botengänge. Er bedauert - trotz seines gewissenhaften Umgangs mit dem Geld - seine kleine Rente. Richard Krämer weiß um seine Behinderung, und er grübelt, warum er nicht geheilt werden konnte. Eine Heilung hat er allerdings erfahren: 1998 erkrankte er an Darmkrebs, und seine Lebenserwartung wurde als sehr gering eingestuft. Heute gilt er als geheilt, und auch seine mit der Krankheit einhergehende depressive Stimmung ist verschwunden.

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