Ihr Kinderlein kommet

REINSFELD. "Tschernobyl-Kinder dürfen nicht mehr ausreisen." Mit dieser Ankündigung hatte Alexander Lukaschenko auch bei der Reinsfelder Kinderhilfe große Besorgnis hervorgerufen. Inzwischen ist der weißrussische Präsident von dieser Drohung zwar abgerückt. Die Arbeit des Vereins wird durch seine Entscheidungen aber gleichwohl massiv behindert.

Für viele westliche Beobachter ist Alexander Lukaschenko der letzte Diktator Europas. Einige Länder haben dem weißrussischen Präsidenten deshalb bereits ein Einreiseverbot erteilt. Diese Einschränkung der Reisefreiheit wollte der Herrscher aus Minsk offensichtlich auch seinen Untertanen auferlegen. Ende 2004 kündigte der autoritäre Staatschef nämlich an, "dass wir ein für allemal mit der fehlenden Kontrolle über die Erholung und Gesundung unserer Kinder Schluss machen". Man müsse die Kinder davor schützen, dass sie von der westlichen Konsumgesellschaft verführt werden. Deren Werte hätten ohnehin schon die Jugend und das Land überschwemmt. "So eine Erziehung brauchen wir nicht", polterte Lukaschenko in seiner Rede vor dem weißrussischen Parlament. Diese Drohungen hatten auch die Tschernobyl-Kinderhilfe in Reinsfeld aufgeschreckt. Denn seit elf Jahren kommen aus der Stadt Brest Kinder, die an den Spätfolgen der Reaktorkatastrophe vom April 1986 leiden, in den Sommerferien in den Hochwald. Dort können sich die strahlengeschädigten Jungen und Mädchen bei ihren Gastfamilien drei Wochen lang erholen, gesunde Luft atmen und vitaminreiche Kost zu sich nehmen. 50 bis 60 weißrussische Kinder im Alter von acht bis 18 treten jedes Jahr diese Reise an. Manche von ihnen, wie der heute 17-Jährige Zhenya, sind von Anfang an dabei, viele sind in der Zwischenzeit schon gestorben, wie Ulla Dupont berichtet. "Natürlich freuen sich die Kinder sehr auf ihren Aufenthalt in Deutschland", betont die Vorsitzende des Vereins, dem rund 100 Familien als Mitglieder angehören. Doch nach den Ankündigungen Lukaschenkos "haben wir wirklich gedacht, dass in diesem Jahr keine Kinder kommen können". Diese größte Sorge wurde der Reinsfelder Initiative jetzt genommen. Die zweite Vorsitzende Helene Schlicht hatte Ende voriger Woche Kontakt zur Deutschen Botschaft in Minsk aufgenommen. "Die Frau, die dort für den Verein die Visa bearbeitet, hat uns bestätigt, dass es mit der Ausreise der Kinder klappt", berichtet Dupont erleichtert. Warum Lukaschenko seine Meinung plötzlich geändert habe, wisse kein Mensch. "Eine offizielle Stellungnahme von ihm gibt es meines Wissens nach nicht", sagt Dupont. Sie vermutet aber, dass "er nicht mit den Gasteltern und deren Gegenwehr gerechnet hat". In der Tat waren die Tschernobyl-Initiativen, die sich in Deutschland zu einem Netzwerk zusammengeschlossen haben, sowie Kirchenvertreter und Politiker gegen das drohende Reiseverbot Sturm gelaufen. Zwar dürfte dem Aufenthalt der Kinder aus Brest vom 16. Juli bis 6. August nun nichts mehr im Wege stehen, doch die Unberechenbarkeit des Autokraten macht dem Reinsfelder Verein das Leben dennoch schwer. "Unsere Arbeit wird durch seine Entscheidungen massiv beeinträchtigt, und es wird jedes Jahr schlimmer", sagt Dupont. Weil Lukaschenko neue, schärfere Auflagen für die Einfuhr von Hilfslieferungen erlassen hat und dafür offenkundig hohe Steuern verlangen will, werden die Reinsfelder erstmals keinen Transport nach Brest schicken. "Wir können nämlich nicht mehr garantieren, dass die Pakete auch ankommen", sagt Dupont.Erstmalig kein Hilfstransport nach Brest

Bislang war jedes Jahr ein30-Tonner mit rund 800 Paketen aus dem Hochwald nach Weißrussland gefahren. In Brest hatte der Partner des Vereins, eine Mütter-Organisation, diese Hilfslieferung in Empfang genommen und Lebensmittel, Kleidung oder Spielwaren an strahlengeschädigte Kinder verteilt. Diese waren mit ihren Familien aus der Katastrophenregion nach Brest umgesiedelt worden und "leben am Rande der Stadt in einem Ghetto", wie Guido Dupont aus eigener Anschauung weiß. Diese Hilfe kann der Reinsfelder Verein jetzt nicht mehr leisten. Ulla Dupont: "Durch die Schikanen dieses Mannes geht einem die Euphorie langsam verloren." Die Tschernobyl-Hilfe Reinsfeld sucht Gastgeber-Familien für den Aufenthalt der strahlengeschädigten Kinder in diesem Sommer. Wer den Verein unterstützen will und den Kindern drei Wochen lang Kost und Unterkunft anbieten möchte, kann sich bei Ulla Dupont unter Telefon 06503/8625 oder bei Christiane Rump, Telefon 0651/54146 melden.

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