Ganz groß geschrieben: Nachbarschaftshilfe

KANZEM. Nein, die Kanzemer haben das "Tauschnetz" nicht erfunden. Aber sie haben mit dieser von Vorbildern in anderen Regionen übernommenen Einrichtung etwas wieder belebt, was vielerorts trotz aller gegenteiligen Behauptungen fast völlig verschwunden ist: Nachbarschaftshilfe auf Gegenseitigkeit, ein Angebot sozialer Kontakte und ein Forum für Gespräche und Meinungsaustausch.

 80 Jahre und kein bisschen "greise": Im Rahmen des Programms "Tauschnetz" betreut Gertrud Hecht unter anderem Klein- und Krabbelkinder; wenn's passt oder notwendig ist, auch auf dem mit Decken und Deckchen ausgelegten Boden der Krabbelecke. TV-Foto: Klaus D. Jaspers

80 Jahre und kein bisschen "greise": Im Rahmen des Programms "Tauschnetz" betreut Gertrud Hecht unter anderem Klein- und Krabbelkinder; wenn's passt oder notwendig ist, auch auf dem mit Decken und Deckchen ausgelegten Boden der Krabbelecke. TV-Foto: Klaus D. Jaspers

Gelebte Nachbarschaftshilfe - das ist bei Weitem nicht nur, irgendwann irgendetwas für eine Nachbarin oder einen Nachbarn aus einem Geschäft "in der Stadt" mitzubringen, das bedeutet, für Nachbarn, die Hilfe oder auch nur eine Gefälligkeit benötigen, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten da zu sein. Der "Katalog" der Angebote ist ungedruckt, aber beeindruckend groß, und der ebenfalls ungedruckten "Erfolgsliste" ist zu entnehmen, dass gerade die Betagteren Leistungen vollbringen, die jüngere, gelegentlich dem modernen Jugendwahn verfallene Generationen ihnen keinesfalls mehr zutrauen.Es zeigen sich plötzlich unerwartete Fähigkeiten

Ortsbürgermeister Günter Frentzen, der das "Tauschnetz" um das Jahr 2003 gemeinsam mit weiteren sieben Kanzemer Bürgern aus der Taufe gehoben hat, berichtet von Heinrich Meyer, der, 80-jährig, unerwartetes Können bewiesen hat. "Eine Frau aus Saarburg, die das Tauschnetz von irgendwo her kannte, hatte uns um Hilfe beim Transport eines eben gekauften Ofens in die dritte Etage gebeten. Ich fragte Heinrich Meyer, ob er jemanden kenne, der kräftig genug sei, das Problem zu lösen. Meyer versprach, sich darum zu kümmern - und er tat das auf seine Weise." Was Frentzen "seine Weise" nennt, sah so aus: Meyer fuhr mit Frentzen nach Saarburg, übernahm vor Ort das Kommando, organisierte gemeinsam mit der Hilfe Suchenden noch einen kräftigen Mann und vor allem eine Sackkarre, und dann stand der schwere Ofen plötzlich dort, wo er hingehörte."Jeder ist auf Hilfestellung angewiesen"

Hilfe der ganz anderen Art bietet die von allen nur "Gerti" genannte Gertrud Hecht an. Die muntere Junggebliebene aus Meyers Altersgruppe beherrscht all das, was landläufig "Hausfrauentugenden" genannt wird: Sie kann bügeln, backen, kochen, Haus, Hund, Katze und Goldhamster hüten, Blumen versorgen und so weiter. Ihre ganz große Liebe gehört Kindern. Sie hat ein wachsames Auge darauf, ob die ihr gelegentlich anvertrauten Grundschülerinnen und -schüler ihre Hausaufgaben korrekt erledigen, und sie betreut in Mamas Abwesenheit Kleinst- und Kleinkinder - gelegentlich auch auf dem mit Decken ausgelegten Boden der heimischen Krabbel-Ecke. Angenommen werden die Angebote des Tauschnetzes noch immer relativ zögerlich, obwohl rund 40 Personen dem Kreis angehören. Frentzen: "Es dürften ruhig ein paar mehr sein." 40 Menschen, deren Hilfespektrum weit gefächert ist. Beispielsweise sind da zwei examinierte Krankenschwestern, die, ohne der etablierten Ärzteschaft Konkurrenz zu machen, bei kleinen Wehwehchen mit einer Pflaster-"Behandlung" helfen, einen Verband wechseln oder, wenn's erforderlich ist, einen Patienten zum Krankenhaus oder zum Arzt fahren. Der Ortsbürgermeister erläutert: "Die Gesellschaft - das sind wir alle - ist auf diese Hilfestellungen angewiesen. Viele Leistungen im Gesundheitswesen sind von den Kassen nicht mehr bezahlbar; dazu gehört auch die Taxifahrt zum nächsten Arzt oder Krankenhaus. Und jede eingesparte, hunderte Euro teure Krankenwagenfahrt entlastet die Krankenkassen." Das komplette Angebot des Tauschnetzes ist kaum aufzulisten. Im Prinzip umfasst es (fast) alles, was täglich anfällt - von der Fahr- und Mitfahrgelegenheit über Hilfen im und rund um das Haus bis hin zur Einführung in die modernen Kommunikationstechniken. Zum letztgenannten Punkt haben sich jüngere und junge Kanzemer als "Lehrer" angeboten. Leider, so Günter Frentzen, werden deren Angebote nicht oder nicht im gewünschten Umfang angenommen. Das "Tauschnetz" ist kein eingetragener Verein. Frentzen: "Wir machen das alles so unbürokratisch wie eben möglich." Dass dann doch ein wenig Bürokratie nötig wurde, haben die "Tauschnetz"-Organisatoren allerdings akzeptiert.Statt Bargeld gibt es Saartaler

"Tauschnetz" bedeutet, dass Leistungen nicht bezahlt, sondern gegen Leistungen getauscht werden. Dafür, dass alles seine Ordnung hat, sorgt "Geschäftsführer" Rudolf Rohles: Er verwaltet die Konten, über welche Leistungen und Gegenleistungen ver- und abgerechnet werden. Statt Bargeld gibt es imaginäre "Saartaler" - 20 an der Zahl je Leistungs-Stunde. Diese können in Form von Leistungen aller Art wieder eingefordert werden. Dass das System funktioniert, konnte Günter Frentzen mittlerweile (auf Anfragen) bis hin zum Bodensee bestätigen. Des Ortsbürgermeisters größter Wunsch: "Noch machen zu wenige Neubürger mit. Ich würde mich freuen, wenn heute Abend besonders viele von ihnen bei uns wären." Heute Abend: Das ist ein Erfahrungsaustausch der Mitglieder (und möglichst vieler Interessenten auch aus den Nachbarorten) um 20 Uhr im Bürgerhaus Kanzem.

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