Anstand der Aufständischen

NÜRBURGRING. Ein hervorragendes Programm und so viele Zuschauer wie seit 20 Jahren nicht mehr: Rund 80 Bands und über 80 000 Zuschauer haben gezeigt, warum "Rock am Ring" in Deutschland weiterhin das Maß aller Festivals ist. Im Umfeld hat sich aber einiges verändert – zum Positiven, wie der TV bei einem Zeltplatz-Rundgang feststellte.

"I predict a riot", schallt es aus den Lautsprechern des Kleinbusses. Fünf Jungs haben es sich davor bequem gemacht. Einen Aufstand kündigen die "Kaiser Chiefs" in dem Lied an: Randale, Krawall, Aufruhr. Kurz zuvor hat die Band aus Leeds den Hit noch live gespielt, gerade hundert Meter entfernt auf der "Rock am Ring"-Hauptbühne. Jetzt rotiert die CD. Und der Soundtrack passt zur Szene wie eine Pumpgun zur "Ein bisschen Frieden"-Nicole: Die vielleicht 20-jährigen "Kaiser-Chiefs"-Fans sitzen regungslos auf ihren Camping-Stühlen, beobachten Passanten. Der eine hat die Mütze tief ins Gesicht gezogen, ein anderer nippt lustlos am Bier. Dialoge? Kein Bedarf. Aufstand gefällig? Gott bewahre, wenn selbst bloßes Aufstehen zu anstrengend ist. Das ist nur eine Szene von vielen, aber sie steht für Rock am Ring 2006: Das Festival ist eine Ausnahmeveranstaltung, bei der es nicht nur um Musik geht. Auch um Bier, um Hormone, um die Jagd nach Glücksmomenten. Mit zehntausenden Teenagern und Um-die-20-Jährigen und nur noch vereinzelten Vertretern der Ü-30-Fraktion, der Stamm-Ringrocker. Insgesamt 80 000 Leute, die Party feiern - das riecht nach Ärger. Aber nur aus der Entfernung.

Kein Regen, kaum Ärger

Es ist Sonntag, später Nachmittag, auf einem für Wohnmobile reservierten Camping-Platz. Schon vorher hatte Veranstalter Marek Lieberberg seinen obligatorischen Gelände-Besuch hinter sich gebracht. Sein Fazit: alles ruhig, alles bestens. Fans, Veranstalter, Polizei - alle sind zufrieden. "Die Trennung zwischen Parken und Zelten hat sich zum ersten Mal wirklich bewährt", freut sich Lieberberg.

Rock am Ring - das ist seit 1985 ein Überlebenstraining für Generationen von Rock-Fans. Ein Kampf gegen Konventionen. Gegen die Dusch-Gewohnheit etwa oder den Rasur-Zwang. Eine Schlacht gegen die brodelnde Magensäure, die nie gewonnen wird. Motto: Wer erstmal knietief im Schlamm steckt, kümmert sich nicht mehr um ein Loch in der Socke.

Ein Sonntagnachmittag-Spaziergang über die Camping-Plätze des Rings? Vor ein paar Jahren stellte man sich so noch ein Kriegsgebiet vor: 18-Jährige im Delirium, die ihren eigenen, verratzten Wohnwagen mit Benzin übergießen und anzünden. Lodernde Sofas, ein Hauch von Bürgerkrieg. Benzin und Wut in der Luft. Der Aufstand der Ungeduschten. Vor fünf Jahren gab es das. Und heute? Es ist fast schon idyllisch, die Sonne lugt hervor, sie kann die Kälte aber kaum vertreiben. Rock am Ring kommt 2006 praktisch ohne Regen aus.

Ein paar spätberufene Hippies tanzen zwischen zwei alten VW-Bussen zu "Venus". Gegenüber rockt eine Gruppe mit freiem Oberkörper zu AC/DC. "Böhse Onkelz"-Fahne und Bob-Marley-Flagge hängen Zelt an Zelt. Aber Aggressionen gibt es kaum. Höchstens aus den Lautsprecher-Boxen. Und auch dann oft in Zimmerlautstärke.

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