Bizarre Klanggestalten

TRIER. (mö) Fürs bequeme Hören ist Joachim Kühn nicht der rechte Mann. Er setzt sich ans Klavier, hört sich musizierend in Klangfiguren und Harmonien ein, lässt eine Melodie ausschwingen, als habe sich Chopin ins 21. Jahrhundert verirrt, schlägt ein paar Terzenfolgen an, als wär's Mozart, beharrt auf Stimmen- und Akkordkombinationen, denen der barocke Ursprung anzuhören ist.

Und spielt sich dann immer tiefer in die Musik hinein. Nein, keine glatten, eingängigen Abläufe, sondern bizarre Klanggestalten - sich auftürmend, gezackt, brillant und manchmal verquer. Und doch nicht ziellos improvisierend, sondern sorgfältig gebaut, Formen mit Erinnerungen, mit Reprisen. Joachim Kühn improvisiert mit der Musikkultur, kommentiert sie in Tönen. Musik über Musik. Bachs berühmte Chaconne - da bleibt die Beziehung zum Violin-Original erhalten. Aber dazu entfaltet Kühn ein Wechselspiel aus Entfernen und Sich-Erinnern - zwischen Nähe und Distanz zum Original, zwischen Reverenz an Bach und kreativer Eigenständigkeit. Gleiches unternimmt er mit Ornette Coleman. Dann greift er zum Saxophon, produziert Melodie-Fragmente, die sich unversehens zu einer großen Einheit zusammenfügen wie Steine zu einem Mosaik. Seine Kompositionen mögen für sich genommen nicht allzu bedeutend sein. Zu auffällig prägt sie die geschickte Rezeption, selten nur die bahnbrechende Originalität. Aber in der Einmaligkeit von Musik, Person, Zeit und Ort, in der Kraft und Tiefe des Musizierens schwingt ein Faszinosum mit, das alle Kompositionskritik verstummen lässt. Wie eine Sternschnuppe blitzt etwas Genialisches, Mitreißendes, tiefgründig Spontanes auf. Warme, freundschaftliche Begei-sterung im voll besetzten Palais-Festsaal.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Vom erwischt werden
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael BoltonVom erwischt werden
Zum Thema
Aus dem Ressort