Bürgerliches Parkett

SCHWEICH. (mö) Erstaunlich, was scheinbar längst abgegriffenen Ideen noch hergeben. Ein Abend mit Liedern zu Goethe-Texten gehört mittlerweile nicht gerade zu den spannendsten Programmkonzepten.

Der Liederabend mit Mee-Jeen Yun, Sopran und Theresa Renelt in der fast voll besetzten Synagoge Schweich setzte einen anderen Akzent, präsentierte unter dem Titel "Von Goethe inspiriert" ein lebendiges Spektrum der musikalischen Goethe-Rezeption: Nicht nur Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann und Liszt, sondern auch die Musik von Komponistinnen, darunter die Mendelssohn-Schwester Fanny Hensel und sogar Bettina von Armin, die den Dichter bekanntlich anhimmelte. Das sind wahre Raritäten, freilich von unterschiedlicher Qualität und einer deutlichen Begrenzung im Ausdrucksradius. In ihnen begibt sich der Dichterfürst unüberhörbar aufs Parkett der gutbürgerlichen Salons - immer geschmackvoll, mal ambitioniert, meist eher harmlos. Um gleich im Bild zu bleiben: Auch Theresia Renelt bewegt sich in diesem abgezirkelten Ambiente. Sie musiziert feinsinnig, wohlgeordnet, sicher und sensibel, verbietet sich aber jeden eigenständigen Impuls, benutzt allzu ausgiebig das linke (Piano-)Pedal. Der Klavierklang bleibt blass und eigentümlich körperlos. Doppelt schade. Technisch und musikalisch hätte die Pianistin das Potential für intensiveres, impulsstärkeres Begleiten. Und Mee-Jeen Yuns Ausdrucks-Spannweite wird vom Klavier so nicht abgedeckt. Gewiss: Die koreanische Soprani-stin ist in der Vokal- und Konsonantenbildung dieser Lieder nicht so zu Hause wie eine gut ausgebildete deutsche Sängerin. Möglich, dass sich da und dort auch noch die Intonation verbessern ließe. Aber bei Mee-Jenn Yun bestechen die hellhörige Musikalität, der sichere Formsinn, die Fähigkeit zur absolut schlüssigen Gestaltung. Sie beherrscht das penible, grazile Filigran in Mozarts nur scheinbar einfachem "Veilchen" und hat zugleich das sängerische und musikalische Können für Liszts ausladende Lied-Lyrik. Selbst simple Sätze wie Louise Reichardts "Schäfers Klagelied" erhalten Kontur und Charakter. Und in den großen Kompositionen des Abends, Schuberts "Ganymed" und "Gretchen am Spinnrad", Robert Schumanns "Liebeslied" wagt sie auch die starken Tö- ne, gestattet sich gelegentlich kleine (legitime) Ausflüge ins Opernhafte, musiziert hingebungsvoll expressiv. Da zeichnet Musik die dichterische Dynamik nach, jenseits aller gepflegt-beengten Bürgerlichkeit. Und zeigt, dass sich Goethe auch musikalisch nicht für den Salon vereinnahmen ließ.

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