Der Meister macht die Massen selig

Der Begriff "Weihnachtskonzert" führt in die Irre. Was Guildo Horn jedes Jahr am Tag vor Heiligabend in der Europahalle zelebriert, ist eine Katharsis - eine innere Reinigung durch das Ausleben von Leidenschaften, die man im normalen Leben selbst auf der Folterbank energisch leugnen würde.

Trier. Die letzten 30 Minuten vor dem Heben des Vorhangs sind ideal für ein wenig Amateur-Philosophie. Wann wird Kultur auf Kult reduziert, und ist Kult noch Kultur? Es gab 2007 mit Sicherheit jede Menge Auftritte in der Europahalle, die Kultur pur waren. Aber niemand, absolut niemand, ist kultiger als der Wasserfälle schwitzende Bauchträger mit der Vorne-nix-hinten-lang-Frisur. Am 23. Dezember eines jeden Jahres gibt es in Trier keine Alternative zu Guildo Horn, seinen orthopädischen Strümpfen und einem dreistündigen Programm mit einer wahrlich extremen Emotions- und Adrenalin-Ausschüttung.Die Europahalle ist rappelvoll, wie immer. Guildo Horn ist für Veranstalter Ingo Popp der Stein, auf den er bauen kann. Die Vorfreude der treuen Hundertschaften wabert durch die Halle wie Nebel über dem Moseltal. Sollte sich ein Tourist, Ortsunkundiger oder kürzlich Zugereister ins Zentrum des Kultes verirrt haben und sich die Frage stellen, wer denn Guildo Horn überhaupt ist, so würde er schnell informiert - und anschließend wahrscheinlich gelyncht. Angelehnt an Tony Christies "Amarillo" grölt die Meute "Guildo war in Birmingham". Der Auftritt beim Grand Prix de la Chanson mit "Guildo hat euch lieb" ist zwar schon fast zehn Jahre her, aber was soll's. "Dinner for one" ist noch viel älter, aber dennoch sind Miss Sophie und ihr Butler bis heute unverzichtbare Gäste an Silvester.Um kurz auf Tony Christie und die Katharsis zurück zu kommen: Guildos Programm, sein Auftritt, seine Präsenz auf der Bühne erreicht offenbar innere Ebenen, die anderen Künstlern für immer verschlossen bleiben. Selig singen die Massen "17 Jahr, blondes Haar", "Moskau" und andere Perlen deutschen Liedgutes mit. Die Halle, in der vor kurzem noch Annett Louisan ein im Vergleich zum Horn-Auftritt zurückhaltendes und regelrecht gesittetes Publikum bezirzte, wird zum Schauplatz logisch nicht mehr nachvollziehbarer Szenen. Das Mitsingen von Stücken, vor denen der Singende im Normalzustand schreiend davonlaufen würde, ist nur ein Teil davon. Regelrecht extatisch folgt die Meute den Anweisungen des Meisters, macht brav die Mühle und den Tannenbaum und rast vor Freude, als Guildo sich zum Bad in die Menge begibt.Dieser Ausflug wird übrigens nicht nur metaphorisch, sondern auch faktisch dem Begriff "Bad" gerecht, denn Guildo sorgt für ausufernde Feuchtigkeit in seiner näheren Umgebung. Das stört nicht jeden, viele greifen trotzdem zu, nur einzelne Damen ziehen ein sanftes Ausweichmanöver vor.Neben der aus Saarbrücken kommenden Blaszentrale Dessau baut Guildo auch den Kinderchor Riol in seine Show ein. "Hört ihr denn auch Motörhead?", fragt der Meister die Mädels, die mit Mut und Verve vor mehr als 2000 Menschen singen. Tun sie nicht, macht aber nichts. Man sieht sich 2008 in der Europahalle.

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