Der letzte König von Nimmerland

SANTA MARIA. Aufstieg und Fall eines Pop-Königs: Michael Jackson war der größte Star der 80er. Nun durchleidet er, wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt, seine schlimmste Phase – egal, wie das Gericht entscheidet: Der Verlierer steht schon fest.

Die "Truman-Show" zeigt einen amerikanischen Alptraum. Ein Hollywood-Film aus den 90ern mit Hauptdarsteller Jim Carrey, dessen ganzes behütetes Leben von versteckten Kameras in jeden Winkel der Welt übertragen wird. Er merkt erst spät, dass er um sein Leben betrogen wird. Eine Fiktion. Der reale amerikanische Alptraum könnte "Jackson-Show" heißen. Mit dem Hauptdarsteller Michael Jackson, der sich mit einer Welt auseinandersetzen muss, die mit seinem Leben nichts zu tun hat. "Wie ein Bluter, der sich keinen Kratzer leisten darf", so beschrieb Jackson schon 1982 seinen Kampf gegen den steinigen Alltag. Damals war er auf dem Zenit, der König des Pops. Ein 23-Jähriger, der mit "Thriller" eines der wichtigsten Alben der Popgeschichte vorgelegt hatte. Ein Teenie-Idol. Schön, reich, begehrt. Aber wer weiß schon, wann es abwärts geht? Mittlerweile ist die ehemalige Pop-Ikone so weit unten, dass zumindest ein letztes Absacken kaum noch kratzen kann. Michael Jackson zieht sich am liebsten auf seine "Neverland"-Ranch ("Nimmerland") zurück, lebt dort abgeschieden, ohne Drehbuch, ohne 24-Stunden-Kameras. Er zeigt sich der Öffentlichkeit nur noch, wenn es sein muss. Etwa vor Gericht. Jackson ist kein "Truman". Und doch ist der 46-Jährige längst in den Besitz der Gesellschaft übergegangen. Ins Eigentum seiner Hasser, die ihn für einen geisteskranken Perversen halten. In den Besitz seiner Fans, die ihn als Opfer sehen - diffamiert von einer geldgeilen Familie, die ihn des Kindesmissbrauchs beschuldigt. Gepeinigt vom besessenen Bezirks-Staatsanwalt Tom Sneddon. Gegeißelt vom System. Von der Gesellschaft, von der Welt. Der "Fleisch gewordene amerikanische Traum" (so nannte ihn der "Spiegel" 1983) ist längst zerlegt. Er hat selbst dabei mitgeholfen. Geier finden sich immer. Und wenn er unschuldig sein sollte, wird ihm das auch kaum mehr helfen. Zeitungen kolportieren, dass Jackson vor einem möglichen Gang ins Gefängnis - ihm drohen bis zu 20 Jahre Haft - panische Angst hat. Nicht vor Schloss und Riegel, sondern vor der Tatsache, ohne Fernseher und DVD-Player auskommen zu müssen. Ob das nun stimmt oder nicht: Seine Freiheit hat er längst verloren. Vielleicht schon als Fünfjähriger. "Ich hatte keine Kindheit", sagt Jackson über sich selbst. Während Gleichaltrige Sandburgen bauten, stand er auf der Bühne. Angetrieben von einem Vater, der keine Lust mehr hatte auf seinen Knochenjob als Stahlarbeiter in Gary (Indiana). Er hatte ja reichlich Kinder. Joseph Jackson ließ den Nachwuchs für sich schuften. 1963 gründete er die "Jackson Five". Wer von seinen Kindern nicht spurte, spürte den Gürtel. Die Ochsentouren durch Transve-stiten-Schuppen in Chicago, durch Spelunken und Strip-Bars zahlten sich aus. Sie brachten Erfolg, ab 1969 auch Spitzenplatzierungen in den Charts ("I Want You Back"). Vielleicht brachten sie auch den einen oder anderen Knacks. Der Mann, seine Erfolge und die Metzger

Die Solo-Karriere des Nesthäkchens Michael stand von Beginn an unter einem guten Stern. Sein Debüt "Off the Wall" (1979) ging fast zehn Millionen mal über die Ladentheke. Das war aber nichts gegen "Thriller". Die Platte war stilbildend, mit einem legendären Video ("Thriller" mit Jackson als Zombie auf dem Friedhof). Mit einem Mann, der einen eigenen, unverwechselbaren Tanzstil hatte. Mit einem gutaussehenden, dunkelhäutigen 23-Jährigen auf dem Cover, der im weißen Anzug lasziv in die Kamera blickte. Und der kaum noch Ähnlichkeit mehr hat mit dem bleichen, hohlwangigen Jackson von heute, der aussieht wie seine eigene schlechte Kopie aus dem "Madame Tussaud's"- Restelager. 25 Millionen Mal verkaufte sich "Thriller" allein in den USA. Und schon damals musste sich Jackson rechtfertigen. Im Stück "Billie Jean" rechnet er mit einer Frau ab, die ihn als Vater ihres Kindes ausgemacht haben will. Billie Jean ist nicht seine Geliebte und war es auch nicht, singt er, ächzt er, fleht er. Mit derlei Anschuldigungen könnte er heute wohl besser leben. Die Alben "Bad" (1987), "Dangerous" (1991) und "HIStory: Past, Present and Future" (1995) verkauften sich noch millionenfach, auch wenn der Erfolg zumindest langsam nachließ. Auch heute wehrt sich Jackson. Nicht nur gegen die aktuellen Missbrauchs-Vorwürfe, die ihn wieder ins Rampenlicht zerrten. Schon 1993 hörte er ähnliche Anschuldigungen. Damals zahlte er 23 Millionen Dollar an die Familie eines 13-Jährigen, den er angeblich missbraucht hatte, und die Sache war vergessen. Von "Schweigegeld" war danach oft die Rede. Er rechtfertigt sich auch für sein Äußeres. Nur zwei Schönheits-Operationen habe er über sich ergehen lassen, beteuerte Jackson etwa. Der kalifornische Schönheits-Chirurg Wallace Goodstein schätzt dagegen, dass es "mindestens 50" gewesen sein müssen. "Niemand sieht nach zwei Eingriffen so aus. Das würde der übelste Metzger meiner Zunft nicht hinbekommen." Ob "Wacko Jacko" (der Bekloppte), "Peter Pan des Pop", "lei-stungsfähige Gelddruckmaschine" - Jackson hat in seiner Karriere viele Bezeichnungen verpasst bekommen. "Der junge Veteran" titelte der "Spiegel" 1983. Heute ist er wohl das älteste aller Kinder. Das macht ihn noch nicht zum Opfer, noch nicht zum Täter, aber wohl zum Verlierer. Zu gewinnen hat er nur noch seine Ruhe.

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