Die Zeit frisst die Menschen

TRIER. Mit Dirk d’Ases zeitgenössischer Tango-Oper "Azrael" liefert das Trierer Theater ein herausragendes Stück Musiktheater in idealem Ambiente ab. Die Zocker-Tragödie mit philosophischem Tiefgang findet im "Forum", dem ehemaligen Franzosenkino, statt.

Im Grunde sieht es nicht viel anders aus als sonst. Ein DJ-Pult, locker aufgestellte Barhocker und hohe Tische. Selbst die altar-artige Holzplattform in der Mitte würde wahrscheinlich nicht sonderlich auffallen, wenn sich Triers junge Club-Szene hier auf dem trendigsten Dancefloor der Stadt trifft. Nur die Musik ist etwas ungewohnt, und der Dress-Code der Tänzer. Aus den Lautsprecher klingt ein Sound, der nach Carlos Gardel und Astor Piazolla duftet, und mitten im Publikum drehen fünf Tanzpaare in schickem Zwirn ihre Runden. Wobei "Runden" natürlich Unfug ist angesichts der typischen Tango-Bewegungen mit ihrer unnachahmlichen Mischung aus Geschmeidigkeit und Spannung, aus Fließendem und Abruptem. Regisseur Bruno Berger-Gorski lässt dem Publikum Zeit, einzutauchen in die Welt des Tangos, sich einzulassen auf einen Rhythmus, der mindestens so sehr Lebensgefühl ist wie Tanz. Ein stimmungsvoller Einstieg in Dirk d'Ases Oper, die den Tango völlig anders interpretiert: nahe am Original zu Beginn, dann immer weiter weg - bis sie ihn fast verliert und nur noch Antje Steens wunderbarer Bandoneon-Klang an die ursprüngliche Musik erinnert. Die Geschichte, die d'Ase und seine Librettistin Silke Hassler in klarer, kraftvoller, unverschwurbelter Sprache erzählen, ist düster. Sie handelt vom spielsüchtigen Zocker Pino, der sein Geld an einen Falschspieler verliert und am Ende gar die sexuellen Dienste seiner widerstrebenden Frau verhökern muss, weil er sonst nichts mehr hat, was er setzen könnte. Im ohnmächtigen Zorn über seine Situation verprügelt er brutal seine Frau, die dabei ihr ungeborenes Kind verliert. Als er kurz darauf selbst getötet wird, schickt ihn der Todesengel Azrael zurück auf die Erde, um seinen letzten Tag erneut zu durchleben und diesmal alles besser zu machen. Doch die "zweite Chance" misslingt, Pino versagt erneut. "Die Zeit frisst den Menschen", lautet der erste und der letzte Satz des Stücks. Bruno Berger-Gorskis packende Inszenierung schärft die Konflikte, arbeitet die Unentrinnbarkeit des Schicksals deutlich heraus. Pino, von Laszlo Lukacs mit zerrauftem Haarschopf als nicht einmal unsympathischer geborener Verlierer verkörpert, lässt es an Einsicht und Besserungsbereitschaft nicht fehlen. Es gibt Momente der Klarheit, in denen für Sekunden Glück, Liebe, Vernunft möglich scheinen. Aber der zynische Todesengel Azrael, der Pino aufgegeben hat, ein anderer zu werden, schafft selbst die Bedingungen, die es dem Spieler in seinem einfachen Gemüt unmöglich machen, seine Frau und das ungeborene Kind beim zweiten Versuch zu retten. Berger-Gorski gelingen Momente von enormer Dichte und großer Radikalität, ohne Firlefanz und Schaumschlägerei. "Azrael" zwingt zum Mitdenken und Mitfühlen. Die Musik von Dirk d'Ase macht es der Regie aber auch leicht, denn in ihr steckt alles, was in der Handlung passiert: enorme Spannung, dramatische Brüche, raffiniert eingefangene Stimmungen. Lautmalerisch, illustrativ untermalt sie das Geschehen, wirkt aber dabei eigenständig, nie wie ein Film-Soundtrack. Klar: Es handelt sich um im besten Sinne zeitgenössische Musik, zur wohligen Berieselung ungeeignet. Man muss sich darauf einlassen. Aber es gibt keinen experimentellen Selbstzweck, der das Publikum vertreibt. Und wer genau hinhört, wird Anklänge an Weill, Bernstein, sogar Puccini heraushören. Für Leute mit offenen Ohren ein idealer Einstieg in aktuelle Klassik. Das liegt auch daran, dass die Tango-Combo aus Mitgliedern des Orchesters unter Leitung von Christoph Jung sich selbst übertrifft. Vor allem Fred Bodens Schlagzeugpart, der neben dem vertrackten Rhythmus auch enorme melodische Aufgaben übernehmen muss, ist brillant, aber auch Lothar Breitmeier, Martin Form, Jian Cao, Petar Entchev und Josef Bohn stehen um nichts nach. Jung sorgt auch für eine stets punktgenau funktionierende Kommunikation mit den im Saal verteilten, mitten im Publikum singenden Akteuren, die allesamt Bestleistungen abliefern. Allen voran Laszlo Lukacs zeigt, was für ein differenzierter und bewegender Menschendarsteller er sein kann, wenn die Regie ihn dazu treibt. Die Intensität seiner Szenen mit Eva-Maria Günschmann, die seine Frau Maria mit beängstigender Präsenz verkörpert, lässt das Publikum schaudern. Auch Peter Koppelmann als skrupelloser Falschspieler und Juri Zinovenko als Azrael lassen keine Wünsche offen. Natalie Galitski und Reveriano Camil vom Trierer Ballett sorgen gemeinsam mit Paaren der Trierer Tango-Assoziation "AG Tango gusto" für das passende Flair. Langer, intensiver Beifall beim Publikum. Eine Produktion, die man nicht verpassen sollte. Vorstellungen: 13., 20., 27. Dezember; 17., 24., 31. Januar,

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