Harte Schale, weicher Kern

TRIER. Stimmungsvoller hätte die Open-Air-Saison in den antiken Stätten nicht abgeschlossen werden können: Mittelalterlich inspirierte Rockmusik des 21. Jahrhunderts mit "In Extremo" und "Schandmaul" begeisterte das Publikum in den ausverkauften Kaiserthermen restlos.

Der pechschwarz gekleidete Mann nebenan sieht so aus, als würde man ihm ungern nach dem Konzert im Dunklen begegnen. Zehn Ringe pro Ohr, Stachelhalsband, Glatze, Tattoo unterm Adamsapfel, halb voller Bierbecher. Irgendwann später dreht er sich um. Auf dem Fan-T-Shirt steht in großen Lettern: "Schäume nur mein wildes Herz/in des Zornes Wehen/bin aus leichtem Stoff gemacht/muss wie Luft vergehen." Wilde Männer mit zartem Gemüt

Der wilde Mittdreißiger mit dem zarten Gemüt bringt den ganzen Abend auf den Punkt: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Das beginnt schon bei der Vorband, die gar keine Vorband ist, sondern ein zweiter Top-Act, vom Publikum gegen jede Gewohnheit begeistert gefeiert. "Schandmaul", das ist klassischer Folkrock mit dem Mitteln der Neuzeit, sozusagen "Burg Waldeck meets Drum'n Bass". Schalmeien und Geigen, kernige Rhythm-Section, gepflegter mehrstimmiger Gesang, intelligente Arrangements, dazu eine Bühnenshow, die Lebensfreude pur rüberbringt. Da klingen Bellmann und Villon an - ob das jemand merkt von den 1800, die tanzen und mitsingen, ist eigentlich egal. Der Mittelalter-Rock lockt eine Publikums-Mischung, die ihresgleichen sucht. Vom 15-jährigen Viva-Freak bis zum 50-Jährigen Zopfträger. Und dann reißen sie gemeinsam bei "In Extremo" die Arme hoch und singen Texte in den malerischen Abendhimmel, die in altschwedisch, provençalisch oder mittelhochdeutsch verfasst sind - ja genau, diese Sprache, die Generationen von Gymnasiasten förmlich zum Schulschwänzen zwang. Drei stiernackige Jungs mit gut getarnter Apfelkornflasche fassen sich an den Händen, springen im Takt und deklamieren lautstark "Was gibt es Schöneres, als in der Liebe eins zu sein" - hinter wie vielen harten Schalen sich doch ein weicher Kern verbirgt Das gilt auch auf der Bühne, wo sich die Band angesichts der ockerfarben strahlenden Bögen der Kaiserthermen und der begrünten römischen Mauern, die wie ein surreales Element ins Bühnenbild hineinragen, förmlich in einen Rausch spielt. Da steht ein bedrohlich grimassierender glatzköpfiger Hüne mit der Figur eines mittelalterlichen Klosterbraumeisters, bekleidet nur mit ledernem Lendenschurz und flächendeckenden Tätowierungen. In seinen Pranken hält er eine keltische Harfe, als wäre es eine Ukulele. Aber die Töne, die er ihr als Intro zu manchen Stücken entlockt, sind bemerkenswert zart. Als "Dr. Pymonte" wird er vorgestellt, mit Kollegen wie "Flex der Biegsame" und "Yellow Pfeiffer" bildet er ein geniales Trio, das per Dudelsack, aber auch schon mal als Schalmeien-Brass den Klang von "In Extremo" prägt. Dazu kommt eine packende Bühnenshow mit reichlich Feuerspielen und ein charismatischer, auch stimmlich souveräner Sänger, der auf abgekochte Frontman-Klischees meist verzichtet. Auch bei der Musik ist manches anders, als es scheint. Lässt man den martialischen Sound-Teppich beiseite (ein Glück, dass der gute Doktor Cüppers 1984 die Kaiserthermen-Ruinen frisch aufbrezeln ließ, sonst hätte es heftig gebröckelt), bleiben einfache, eingängige Spielmanns-Lieder, die man pfeifen oder am Lagerfeuer zur Wanderklampfe singen könnte. Die Rückkehr der Melodie in die zeitgenössische Pop- und Rock-Ästhetik - man möchte die Bands, die nicht zufällig oft aus dem Osten kommen, dafür küssen.Jede Menge abendländische Kultur

Das unterscheidet "In Extremo" auch unüberhörbar von einer Gruppe wie "Rammstein". Einen einzigen Titel gibt es an diesem Abend, der ansatzweise wie "Rammstein" klingt: "Ich habe meine Tante geschlachtet." Da klingelt es im Kopf der Sitten- und Medienwächter. Aber die listigen Extremisten haben einen Text von Frank Wedekind vertont - ebenso überraschend wie unangreifbar. Wedekind und Walther von der Vogelweide, Gregorianik und Minnesang, ein Bühnenbild, das an Pieter Breughel erinnert: Da steckt jede Menge abendländische Kultur drin. Gut getarnt, zugegebenermaßen. Aber so spaßig und animierend, dass man bei genauem Hinsehen späte-stens auf Villons "Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund" selbst mittelalte, übergewichtige, gemeinhin auf journalistische Distanz bedachte Herren beim hemmungslosen Mithüpfen beobachten kann.

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