Hymne auf die Gegenwart

Luxemburg · Ein ausverkauftes Haus, rund 300 Ausführende, ein hellauf begeistertes Publikum: Die Aufführung von Carl Orffs "Carmina burana" mit dem Chor der Großregion in der Philharmonie hat alle Aussicht, ein Meilenstein im großregionalen Musikleben zu werden.

Luxemburg. Mehr geht nicht. Um für das Riesenorchester aus Orchestre Philharmonique und Luxemburger Konservatoriumsstudenten Platz zu schaffen, hatte man die Bühne in der Philharmonie weit vorgezogen. Hinter den Instrumentalisten steht, dicht gedrängt, der Chor der Großregion, an die 140 Sängerinnen und Sänger aus Frankreich, Luxemburg und Deutschland und dazu die rund 30 Knaben der Pueri Cantores.
Das ist gewaltig, aber nicht überdimensioniert. Orffs weltliches Oratorium "Carmina burana" von 1935-36, häufig nur mit zwei Klavieren statt Orchester musiziert, es kommt erst mit diesem großen Apparat ganz zu seinem Recht.
Und weil Dirigent Pierre Cao ganz entschieden auf Deutlichkeit und Prägnanz setzt, blieb trotz der Riesenbesetzung nur wenig in diesem Konzert diffus und ungefähr. Der Eingangschor mit seiner Beschwörung der wechselhaften Fortuna geriet nicht dumpf und angestrengt, sondern offen und hell - eine ausladende Klanglandschaft, ein akustisches Tableau für Frühlingsstimmung, Trinklaune und erotische Anmutungen in den folgenden Sätzen. Mochte da die Homogenität stellenweise verbesserungsfähig sein, mochte manchen Einsätzen die Energie fehlen - dieser Chor ist keine träge Großformation, sondern ein hellwach und sensibel reagierender Klangkörper.
Trotz unterschiedlicher Muttersprachen beherrscht er die lateinisch-deutsche und die mittelhochdeutsche Aussprache. Und die Pueri Cantores, sie beschwören die Allgegenwart der Liebe rein, deutlich und mit ungekünstelt direkter Tongebung.
Auch im Orchester blieben Unschärfen marginal. Viel wichtiger: Pierre Cao hatte die ganz eigene Klangsprache dieser Partitur erarbeitet, eine musikalische Bilderfolge, die Stimmungen beschwört und doch zu ihnen Distanz bezieht.
Mörderische Partien


Bei Alexander Kaimbachers planvoll dünn und angestrengt gesungenem "gebratenen Schwan" war diese Distanz in guten Händen. Bariton Rodion Pogossov behauptete sich in seiner mörderisch schwierigen Baritonpartie mit Anstand, wenn auch einigen Intonationsproblemen und stilfremden Belcanto-Beiklängen. Sopranistin Rosa Feola dagegen setzte auf den dritten Teil, "Cours d\'amours" warme, kultivierte Glanzlichter.
Und dann musizierten sie alle sich immer tiefer hinein in die "Carmina". Die Gegensätze zwischen dramatischer Wucht und lyrischer Intimität, die Orff bis zum Schlusschor immer weiter vertieft - Chor, Orchester und Dirigent geben ihnen Nachdruck und Energie mit. Bis zum letzten Takt liegt über dieser Interpretation eine atemberaubende Präsenz.
Trotz der mittelalterlichen Texte - "Carmina burana" kommt ohne Rückschau und Zukunftsvision aus. Es ist eine Musik des Hier und Jetzt, eine Hymne auf die Gegenwart - damals wie heute. Versteckt sich dahinter ein Stück Zeitgeschichte? Vielleicht blendete Orff in der Nazi-Zeit ja die Zukunft so entschieden aus, weil die politische Entwicklung nur schlimm enden konnte. Ein Grund mehr, die "Carmina burana" in europäischem Geist aufzuführen. mö

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