Jenseits der Kopfgeburten

TRIER. (mö) Medizin und Literatur sind enge Verwandte. Vor allem in jüngster Zeit haben Autoren das Wissen vom Körper in ihre Texte eingebracht. Eine Veranstaltung im Rahmen des Tufa-"Schwing"-Projekts lotete die Ausdrucksmöglichkeiten körperbezogener Literatur aus.

Einen "akustischen Roman" hat man Marcel Beyers "Flughunde" genannt. Der Autor beschreibt den zweiten Weltkrieg aus der Sicht eines Schallexperten und aus der Perspektive der ältesten Tochter von Joseph Goebbels. Beide erleben die Welt vornehmlich akustisch und sensorisch, nicht über die distanzierende Anschauung, sondern über das integrierende Körpergefühl. So, wie sich Schall kugelförmig ausbreitet, vermittelt er eine Empfindung der Nähe, des Eingelassenseins, auch der Passivität. Körperwelten ersetzen Psychogramme. "Sprach-Körper: Wissenschaft und Literatur", der Titel der zweiteiligen Veranstaltung in der Trierer Tuchfabrik, markiert einen aktuellen Trend. Marcel Beyer war einer der vier Autoren, die in der Konferenz eine neuere, körperbezogene und an medizinischen Erfahrungen orientierte Literatur repräsentierten. Die Einführungen der Initiatoren Christian Bermes und Franziska Schößler von der Trierer Universität beleuchteten das Thema aus philosophischer und aus literaturwissenschaftlicher Sicht mit den Romanen von Gregor Laschen, Hans Thill, Thomas Hettche und Marcel Beyer. Tatsächlich erwies sich die Wendung der Literatur zum Körper als Paradigmenwechsel. Weg von einer Ästhetik des Erhabenen, einer Poesie des Bewusstseins, hin zu einem Körpergefühl ohne intellektuelle Vorgaben.Neuer Trend in der Literatur

Das manifestierte sich eindrucksvoll in Gregor Laschens komplexer Lyrik, aber auch in Hans Thills skurrilen Gedichten. Auch die von Text zu Text kühlere Distanz, mit der Thomas Hettche gleichsam sezierend mit den Figuren seiner Erzählungen und Romane verfährt, markiert eine neue Entwicklung. Bezeichnend dafür ein Ausschnitt aus dem Roman "Nox", in dem ein Mann seine eigene Ermordung am Tag des Mauerfalls beschreibt und dann die Neuigkeiten des Tages willenlos weitergibt - eine gleichsam subjektlose Subjektivität. Er habe das als schriftstellerische Befreiung erfahren, sagte Hettche in der abschließenden Podiumsdiskussion, und Marcel Beyer, der aus seiner eher erzählenden, kaum poetisch verdichtenden Lyrik gelesen hatte, fügte hinzu, der Körperbezug ermögliche ein Stück Distanz, Voraussetzung für eine vielperspektivische Schreibweise. Das macht die Texte dieser Autoren in der Tat besonders lesenswert.

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