Mahler der Extreme

LUXEMBURG. An Intensität ist die Mahler-Interpretation der Staatskapelle Berlin unter Barenboim wohl kaum zu übertreffen. Trotzdem – nach dem umjubelten Konzert in der Philharmonie Luxemburg bleiben Fragen offen.

Sie betreten das Podium mit der zielgerichteten, entschlossenen Gestik, die Musiker an den Tag legen, wenn sie sich aufs Größte, Schönste und Höchste vorbereiten. Und in der Tat: Vom ersten, noch unscharfen Pianissimo-Einsatz an demonstriert die Staatskapelle Berlin, demonstriert ihr Chef Daniel Barenboim, dass sie in Gustav Mahlers 7. Sinfonie nichts dem Zufall oder dem Belieben überlassen wollen. Kein Takt fließt beiläufig vorbei. Jedes Detail wird wesentlich. Barenboim und seine Berliner wechseln die Tempi, feilen an der Dynamik, geben Übergängen enorme Energie mit, schreiten die Spannweite zwischen leiser Sehnsucht und auftrumpfender Monumentalität aus. Die "deutsche" Orchesteraufstellung mit den zweiten Geigen vorne rechts und den Kontrabässen auf der linken Seite gehört zum künstlerischen Konzept. Die Staatskapelle Berlin kultiviert spezifisch deutsche Orchester-Tugenden. Die ungewöhnliche Deutlichkeit der Mittelstimmen, namentlich der zweiten Geigen und Bratschen gehört dazu, vor allem aber eins: dass die Musiker Ausdruck wichtiger nehmen als Funktionieren. Mögen andere Spitzenorchester noch mehr Geschmeidigkeit und Brillanz bieten als diese Staatskapelle - in der Intensität des Musizierens wird sie so rasch von niemandem übertroffen. Zum Höhepunkt des Abends entwickelte sich der dritte Satz, das Scherzo mit seinen zahlreichen Klang- und Ausdrucks-Facetten. Keine locker servierte Orchester-Etüde, sondern ein komplexes Verwirrstück, ein Irrgarten der Gefühle, schrill, obskur, ziellos bis zur Raserei. Tiefer hat selten Musik die Schattenseiten der Seele ausgeleuchtet. Und das Finale: Barenboim treibt das brucknernahe Blech-Motiv nach vorne, statt es in sich ruhen zu lassen. Nichts an diesem Satz ist leer repräsentativ, alles zielt mit weitem Atem auf den planvoll abbrechende Schluss. Ein Mahler der Extreme. Grandios! Aber Fragen bleiben. Erschöpft sich die Vielfalt der Sinfonie wirklich in dieser prallen, ausdrucksgeladenen Präsenz? Klingt vornehmlich in den Nachtmusiken des zweiten und vierten Satzes nicht auch anderes an - die Naturlyrik der Vogelrufe und das gleichermaßen Vertraute und Fremde der romantischen Nachtstimmung? Barenboim dirigiert mit höchstem Einsatz und größter Ausdruckskraft an den idyllischen Momenten der Sinfonie vorbei. Bei allen brillanten Antworten, die uns seine Interpretation gibt - diese eine verschweigt sie.

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